999 Meisterwerke (1)

Die Byzantinische Hochzeit

„Byzantinische Hochzeit“ – der Titel des Bildes ist erklärungsbedürftig. Denn die vier Personen in Bildvorder- und Mittelgrund sind auf den ersten Blick westeuropäischer Prägung. Kein Koran, kein holographisches Nippes-Bild, kein Döner drängt ins Bild. Rein optisch könnte es sich auch um eine Hochzeit in der Marien-Kirche von Meckenheim-Süd handeln. Tatsächlich aber stellt das Ciragan Palast Hotel am Bosporus-Ufer die Szenerie. Als Meister der Subtilität verrät der unbekannte Fotograph der Bild-Agentur „Reuters“ dies mit keinem Detail.

Was geschieht auf diesem Bild? Eine junge, entrückt lächelnde Braut wird von einem imposanten Bund weißer Lilien zum Altar geführt. Der knorrige Mann rechts neben ihr ist das Hochzeits-Maskottchen. Einem alten türkischen Brauch folgend wird sie versuchen, ihn bis zur Altar-Treppe loszuwerden. Er wird sich traditionell widersetzen.

Raffiniert: die Spiegelung des Paars im Bildvordergrund um eine schräg dahinter verlaufende Horizontal-Achse. Die Hochzeitsgesellschaft im Hintergrund verkörpert nämlich zugleich den Blick in die Zukunft: eine verbittert schauende Dunkelhaarige in schwarzer Trauerkleidung und ein selbstzufrieden lächelnder Koloss mit grauem Haarkranz um den birnenförmigen Kopf. Der Clou des Bildes liegt in der Doppeldeutigkeit des Bildhintergrundes, oszillierend zwischen Synchronizität und Vision.

Letztere offenbart Grausiges: der Braut ist es nicht gelungen, das rituelle Maskottchen abzuschütteln – sie mußte es tatsächlich heiraten. Der Bildvordergrund hält den letzten glücklichen Moment ihres Lebens fest. Die optische Vorwegnahme späterer Zeiten im Bildhintergrund spricht Bände: der Triumph im Gesicht des Kolosses – der finstere Blick im Gesicht der Alt-Braut. Die Rollen von früher haben sich verkehrt.

Die „Byzantinische Hochzeit“ ist ein Lehrstück über die Risiken orientalischer Hochzeitsbräuche. Und über die fehlende körperliche Durchsetzungskraft von Orchideen-Gebinden.

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