Electricity 2002

Das kleinste Bundesland ist außerhalb seiner Landesgrenzen nicht bekannt dafür, eine nennenswerte Elektro-Szene sein Eigen nennen zu dürfen. Elektronische Musik ist nicht das Steckenpferd der Saarländer. Um so erstaunlicher war es als die Landesregierung vor einigen Monaten mitteilte, sie wolle in der Landeshauptstadt ein Festival für elektronische Musik organisieren. Mit internationalem Flair und großen Einzugsbereich versteht sich.

Peter Meyer, stellvertretender Regierungssprecher, gab den Denkanstoss zu diesem kühnen Plan. „Electricity“ wurde es getauft und sollte an vier Abenden Saarbrücken unter Strom setzen. Wochenlang wurde überlegt, in welchen Clubs und Hallen sich die elektronische Musik heimisch fühlen könnte. Zeitgleich wurde bei Konzertagenturen angefragt, welcher Künstler Anfang November verfügbar sei. Schließlich ist Saarbrücken nicht Köln oder Barcelona, sprich nicht Austragungsort der etablierten Elektro-Festivals Electronic Beats beziehungsweise Sonar. Wer will schon freiwillig in die Provinz? Die Überzeugungsarbeit fruchtete. Underworld, die Drum & Bass-DJane Storm, Mousse T., Monika Kruse, FM Einheit und John Acquaviva wurden an die Saar gelockt. Nun mussten nur noch die Saarländer selbst mitspielen und reges Interesse an dem Festival zeigen. Denn ohne Zuschauer kommt selbst das bestens durch Sponsoren abgesicherte Festival in die Schieflage.

Ein Blick auf die Liste der engagierten Künstler verriet, dass nahezu jedes Spektrum der elektronischen Musik berücksichtigt wurde. Das fing beim traditionellen Techno an, der im Saarland sogar den größten Zuspruch genießt. Daher strömen über 2000 Menschen zum DJ-Set von Monika Kruse. Anders sah es mit dem vor Jahren massiv gehypten Drum & Bass aus, wo sich die Zuschauer zu Beginn nicht gerade in Massen drängelten (siehe Einzelkritik).

Da hatten es die musikalischen Außenseiter des Festivals leichter. HipHop und Dancehall standen in der Gunst der Kids ganz oben. Sie sahen einen der raren Deutschlandauftritte des Latino-Rap-Trios Deliquent Habits und wurden nicht enttäuscht. Obwohl die Show von O.G. Style, Kemo und Ives mitunter einstudiert wirkte. Es musste erst Gentleman kommen, um das Saarbrücker E-Werk in eine Hüpfburg zu verwandeln. Ja, die Saarländer, die spüren die Reggae-Vibes.

Underworld hatten ebenfalls Glück. In der ehemaligen Industriehalle trumpften sie am Donnerstag vor beachtlicher Kulisse auf. In Köln wäre das E-Werk aus allen Nähten geplatzt. In Saarbrücken war es doch knapp bis zur Hälfte gefüllt. Aber wen stört das, wenn Karl Hyde und Rick Smith einen fulminante Auftritt hinlegen, der dem Eröffnungsabend mehr als gerecht wurde. Zuvor scheiterten die Femme Fatales des Elektro-Trash-Trios Chicks On Speed daran, einen bleibenden positiven Eindruck zu hinterlassen. Beim Trash war es leider geblieben. Nicht so im Fall von Andi Thoma und Jan St. Werner alias Mouse On Mars. Sie hatten bereits vor Jahren die Herzen der Elektro-Fans erobert und es sich nie mit ihnen verscherzt. Mögen ihre Tracks noch so vertrackt klingen, sie werden bejubelt und beklatscht. Hier hat sich die Avantgarde durchgesetzt.

Den künstlerisch anspruchvollsten Höhepunkt setzte zum Abschluss eine Riege Elektro-Tüftler, die nicht mal weiß, wie man Mainstream buchstabiert. Air Liquide, die Kölner Sample-Spezialisten Rei$$dorf Force, Hellmut Zerlett (Harald Schmidt Show), Michael Rother (ex-Kraftwerk, ex-Neu!, ex-Harmonia) und der Vorzeige-Weirdo FM Einheit traten als Kollektiv auf, um ein paar hartgesottene Musikfans an die Grenzen des Machbaren heranzutasten. Während es die zuerst Genannten mit verhältnismäßig gängiger elektronischer Musik hielten, überraschte FM Einheit wie zu besten Einstürzende Neubauten-Zeiten mit martialischer Behandlung einer überdimensionalen Feder. Mit Gummihammer, Schlagzeug und Bohrmaschine bearbeitete er den Stahl. Sein zotteliges, graues Haar und seine hektischen Bewegungen erinnerten an einen Primaten, der mit einer Keule seine Beute erlegt. Das Publikum schien dieses Szenario zu irritieren. Es vergaß trotz der durchaus groovenden Kreationen, die aus Laptops, Vinylrillen und Keyboards quoll, sich zu bewegen. Es starrte zwei Stunden lang gebannt und etwas schockiert auf Bühne und Leinwand und erkannte plötzlich, warum das Konzert unter dem Motto „Kultur kracht“ stand.

Nach vier Tagen war dann Schluss. Die Veranstalter gaben sich optimistisch ob der Weiterführung des Festivals. Nicht all ihre Erwartungen wurden erfüllt. Größere Rückschläge blieben glücklicherweise ebenfalls aus. So sagten sie sich: Nach dem Festival ist vor dem Festival. Vielleicht wird Saarbrücken bald in einem Atemzug mit Köln und Barcelona genannt. Der erste Schritt dorthin ist getan.

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