t.A.T.u.: 200 KM/H in the Wrong Lane

Ich schäme mich nicht dafür, dass ich die Bildzeitung lese; ich schäme mich, dass ich ohne Bild manche Ereignisse gar nicht mitbekommen würde. Neulich an einem Donnerstag schlug ich die Zeitung auf und las von zwei russischen Teenie-Lesben, die zur Zeit die europäischen Charts stürmen. Wie Homer Simpson blätterte ich weiter zum täglichen Bericht über die jüngste Leverkusen-Krise, um einige Sekunden später nochmals zurück zu blättern: Zwei russische Teenie-Lesben? Gibt es eine alte Bekannte von mir bei der Plattenfirma, der ich irgendwann meine Fantasien anvertraut habe? Ich spreche gar nicht von sexuellen Fantasien – ich meine den Traum, in dem ich Malcom McLaren bin und die Welt mit skandalöser Popmusik dominiere. Man braucht ja bekanntlich nur eine gute Idee. Und t.A.T.u. ist eine sehr gute Idee.

Als Musikfan, dessen Liebe für den Mainstream erst durch Robbie Williams wieder geweckt wurde, bin ich von t.A.T.u. begeistert, weil sie mir die Möglichkeit bieten, das beste vom Schock-Rock à la Marilyn Manson und Girl-Pop à la Atomic Kitten gleichzeitig zu genießen. An Manson gefiel mir schon immer, dass er die Fernsehsprediger und Politiker meiner Heimat (die USA, die Red) in Rage bringt. Das muss gelobt werden, seine Musik kann ich mir aber nicht antun. Die Mädels von t.A.T.u. werden in Amerika nicht für den Wirbel sorgen, den Manson auslöst; der ein oder andere Sender wird aber bestimmt das Video verbieten und die ein oder andere Talk-Show wird das Ganze thematisieren: „Wie erziehe ich meine Tochter, damit sie nicht wie Lena und Julia aufwächst?“ Ich freue mich auf den Wahnsinn, die Wahrheit ist dabei völlig irrelevant. (Sind sie schwul oder nicht? Sind Meg und Jack White Geschwister? Who cares!).

Für mich funktioniert der t.A.T.u.-Pop aber auch unter rein musikalischen Gesichtspunkten. Was übrigens nicht möglich wäre, wenn er allein die Schöpfung von Produzent Trevor Horn wäre. Mit ihm hatte ich immer meine Probleme – „Video Killed the Radio Star“ geht ja in Ordnung, aber das falsche-Streicher-und-Bläser-Getöse, das er mit Yes‘ „Owner of a Lonely Heart“ zum Trend machte, ging mir von Anfang an auf die Nerven. Auf „200 KM/H in the Wrong Lane“ ist Horn für die Produktion sowie bei drei Liedern für die englischen Texte verantwortlich (darunter der Hit „All the Things She Said“) und diese Beiträge zum Gesamtwerk sind lobenswert; sein 80’s-Retrosound (ich liebe die Synthie-Line in „All the Things“) und die Texte passen perfekt zu den quietschenden, akzentreichen Stimmen der beiden Sängerinnen, so dass Textzeilen wie „They’re not gonna get us“ und „This is not enough“ mit überzeugender jugendlicher Verzweiflung rüber kommen.

Eine wichtige Frage für mich ist: was denken die russische Intellektuellen über den Erfolg von Lena und Julia? Ist er die Krönung der russisch/westlichen Integration (zum ersten Mal ist ein russischer Künstler Nr. 1 in Großbritannien) oder der Gipfel der Korruption russischer Kultur durch multinationale Firmen wie Universal und ihre banalen Marketingkampagnen, die aus „normalen“ Mädels Lesben machen? (Und „200 KM/H in the Wrong Lane“ ist klassische kapitalistische Ausbeutung: nur 8 Lieder, dazu zwei nochmals auf Russisch und zwei Remixe und vor allem das „All the Things She Said“-Video und ein charmanter „Behind-the-Scenes“-Film mit Bonus-Knutschen.)

In diesem kulturellen Zusammenhang ist die Smiths-Cover-Version von „How Soon Is Now?“ der Schlüsselsong des Albums. In dem Lied geht es bekanntlich um den Frust einer jungen Person, die keinen Beziehungspartner in den Clubs findet: „So you go and you stand on your own, and you leave on your own, and you go home and you cry and you want to die.“ Stellt diese Jammerei (keine Beleidigung gegen Morrisey; ich jammere selbst sehr oft, und er tat es poetischer als ich) einen Luxus dar, der den sozialen Gleichheit Russlands mit den „Westen“ beweist? Schließlich hat es ein russische Pop-Künstler vor 15 Jähren vermutlich wesentlich schwerer gehabt und hatte größere Probleme, über die er singen konnte, als mangelnde Club-Kontakte. Jetzt singen t.A.T.u. indirekt über das gleiche Dilemma, mit dem sich nicht nur Teenies überall in der westlichen Welt herumschlagen: Freiheit, und sogar Reichtum, gewährleisten keine Zufriedenheit. Auf dem nächsten Album (und mach es nicht zu schnell, Trevor) sollten sie „Lost in the Supermarket“ von The Clash covern.

t.A.T.u.: 200 KM/H in the Wrong Lane
(Interscope/Universal)

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