Wenn ich mich durch einen Raum, eine Landschaft bewege, will ich mich entspannen. Vielleicht, indem ich mir einfach nur den Weg als Ziel gesetzt habe, völlig desinteressiert an dem, was da um mich herum passiert. Atmosphäre? Meinetwegen; aber ich brauche sie nicht. Ich will nur vom Anfang bis zum Ende gelangen, weil ich der Meinung bin, dass mich Bewegung entspannt oder weil ich wirklich nichts Besseres zu tun habe.
Übertragen auf unsere Exkursionen als Leser bedeutet das: Mach mir das Leben bitte nicht so schwer, lieber Autor, liebe Autorin. Ich liege gerade am Strand von Barbados, die Sonne scheint, die Getränke sind all-inclusive, die Nutten kommen erst heute Abend und also greife ich mir diesen Schinken voller Druckerschwärze da und vertrete mir etwas die Gedanken, sozusagen oder führe meinen anspruchslosen intellektuellen Hund gassi, auch sozusagen.
Aber manchmal will ich mich nicht entspannen. Ich will etwas entdecken. Und dann ist es schon wichtig, was mich so bei meinem Leseausflug in diesem Raum aus Sprache und Handlung erwartet. Dann ist mir auch die Atmosphäre nicht egal. Die Luft, die ich atme, bekommt mir, aber es ist nicht die Luft, die ich für gewöhnlich atme. Irgendwie ist sie anders, stimulierender. Ich verlasse die Straße und stapfe querfeldein, weil mich interessiert, was hinter diesem Zaun da ist. Ich klettere auch über diesen Zaun, gerade in eine Morastgegend, Scheiße!, aber jetzt muss ich weiter, und allmählich verliere ich die Straße aus den Augen und das, wohin sie mich führen sollte.
Das sind die großen Romane. Was ihre Atmosphäre ausmacht, ist das Irritierende ihrer Gedanken, ihrer Sprache, ihrer Form. Wohl bekomme ich eine Geschichte erzählt (eine Straße planiert, eine Straße nur für mich), aber viel interessanter ist das, was jenseits dieser Straße liegt. Dass ich mich dazu verleiten lasse, meinen Fuß auf unbebautes Gebiet zu setzen (sprich: mein Gehirn dazu bringe, selbst zu denken, selbst zu bauen), ist eine Folge dieser Atmosphäre. Ich kann gar nicht anders.
Und wie ist das nun bei Krimis? Sie können beides sein: der Weg als Ziel oder der Weg als Vorwand, vom Wege abzukommen. Ihre Atmosphäre kann neutral sein, d.h. so, dass ich gerade darin überlebe (und das Buch nicht angewidert und nach Luft schnappend wegkicke) oder so, dass sie mich stimuliert. Krimis sind Literatur, verdammt, und also folgen sie deren Gesetzen. Aber da gibt es etwas, das dazukommt. Etwas, das SO nicht unbedingt zur gewöhnlichen Literatur gehört. Spannung.
Wir lesen Krimis, weil sie spannend sind. Menschen in Extremsituationen, Aktionen, bei denen es um Leben und Tod geht – Ungewissheit allerorten. Jedenfalls tut der Autor eines Kriminalromans etwas, das wir im normalen Leben nicht schätzen: Er enthält uns Informationen vor. Und Spannung ist, so gesehen, nichts anderes als die Vorfreude darauf, diese Informationen am Ende doch noch geliefert zu bekommen.
Und genau das wissen wir ziemlich zuverlässig: Der Autor wird uns nicht hängen lassen, er wird alles haarklein aufdecken, erklären, in eine logische Ordnung bringen. Unsere Spannung hat also gleichzeitig etwas Entspannendes. Wir sind die, denen nichts passieren kann, wenn wir uns an die Regeln und Wege halten. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Großteil der Krimileser am Ende der Lesereise „Aufklärung“ möchte. Ein Fall, der ungelöst bleibt? Ein Mörder, der seiner Strafe entgeht? Shocking!
Wie aber erzeugt man nun Spannung? Und ist jeder spannende Roman ein Krimi, respektive: Sind nur Krimis spannend?
Was letzteres anbelangt: sicher nicht. Ich erwarte ganz bescheiden von jedem gelungenen Roman, dass er Spannung aufbaut und mich unterhält. Das eine hat immer etwas mit dem anderen zu tun. Ein spannungsloser Roman unterhält mich nicht, und ein Roman, der mich nicht unterhält, kann keine Spannung besitzen. Für mich nicht.
Franz Kafka, „Das Schloss“. KEIN Krimi. Aber ein Roman, in dem uns Informationen vorenthalten werden. Warum hat man den Landvermesser K. gerufen, wenn man ihm nicht sagt, was er tun soll? Wir erfahren es nicht; niemals. Die fehlende Information dient gewiss dazu, eine Spannung aufzubauen bzw. uns eine Spannung zu offenbaren. Sie erzeugt eine Atmosphäre des Ungewissen, des Ziel- und Trostlosen, und alles gerinnt zur großen Metapher für die Existenz an sich. Es ist spannend, diesen Lese-Raum zu ergründen, und es ist gewiss kein lockerer Spaziergang, der vor uns liegt, wenn wir den Raum betreten und zu atmen beginnen. Wir sterben nicht dabei; durchaus „realitätstauglich“ das alles, aber die literarische Luft, die wir hier in uns aufnehmen, brennt in der Lunge, sorgt für Atemnot, Beklemmung oder, wer weiß, den frischen Wind, den wir schon lange nötig hatten.
Es ist im „Schloss“ nicht der Inhalt selbst, der uns die Spannung liefert. Keine schwarzgewandeten Typen an jeder Ecke, keine Verfolgungsjagden. Solche Elemente mögen in einem Krimi für Spannung sorgen – aber auch hier, so behaupte ich, nicht schon per definitionem, nicht, weil es ein Naturgesetz wäre, dass wir uns, wenn zwei LKWs einander bei Tempo 120 die Stoßstangen zeigen, vor Spannung die Hose voll pinkeln. Nein, das muss schon stilistisch / formal passen, das ist wie bei Hitchcock, wo allein die Tatsache, dass ein Duschvorhang aufgeht und ein Messer reingehalten wird, kein bisschen spannend ist. Auf das WIE kommt es an: Welche Kameraperspektive? Welches Licht?
Apropos Licht: In „Psycho“ gibt es eine Szene, in der der Bösewicht mit einem Glas Milch, das er seinem potentiellen Opfer kredenzen will, die Treppe hochkommt. Das ist an sich nicht spannend. Natürlich fragen wir uns, was der Böse in die Milch getan hat – aber Hitchcock scheint unserer Phantasie hier nur wenig zugetraut zu haben und hat deshalb zu einem genialen Trick gegriffen, um unseren „Unterbewussten“ zu sagen: Pass auf. Mit der Milch ist etwas nicht in Ordnung. Hitchcock hat in das Glas eine Lichtquelle eingebaut, so dass allein der Anblick der Milch uns irritieren muss und Spannung erzeugt.
Schön; aber was ist nun definitiv Spannung in einem Kriminalroman? Ich behaupte: Spannung hat nicht primär etwas mit der Handlung eines Buches zu tun. Die Tatsache, dass sich Schritte aus dem Dunkel nähern, ganz, ganz langsam (in Filmen spielen sie dann gleich auch die entsprechende Musik ein), das ist allein noch keine Spannung. Man fragt sich als Leser natürlich: Was passiert jetzt? Geht es dieser freundlichen jungen Frau, die wir liebgewonnen haben, an den Kragen – oder ist es bloß der Milchmann, der da näher kommt?
Manchmal fühlen sich Leser „atemlos“ vor lauter Spannung, weil auf jeder Seite „irgend etwas passiert“. Manchmal schnürt einem Spannung die Kehle zu, weil sich die Handlung unaufhaltsam dramatisch steigert. Mag sein. Und dennoch: Spannung kommt woanders her – aus dem beleuchteten Milchglas, dem Kamerafokus, der Sprache, dem formalen Aufbau – und sie geht irgendwo anders hin: nicht in unser dingliches Bewusstsein, sondern in unsere Gefühlszentrale. Sie ist unsichtbar wie Luft. Sie ist: Atmosphäre.
Ein Beispiel auch hierfür: In seinem (auch von mir) hochgelobten Roman „Die Wälder am Fluss“ schafft es Joe Lansdale, einen gleich von mehreren „Atmosphären“ besetzten Lese-Raum zu schaffen. Gute alte Faulkner Schule: Wir befinden uns im Süden der USA zur Zeit der Großen Depression. Die Straßen sind staubig, die Sümpfe stickig. Die Menschen leben in Kleinstädten und auf abgelegenen Farmen, sie kämpfen ums Überleben, sie kämpfen auch gegen ihre Vorurteile, gelegentlich wenigstens, oder sie kämpfen gegen alles, was fremd ist, was neu ist. Sie sind Rassisten oder die Opfer von Rassisten oder beides.
Inmitten dieser Szenerie der Erzähler: ein alter Mann, nur noch von Apparatemedizin am Leben erhalten, der sich an das größte Abenteuer seines Lebens erinnert, damals, als er zehn war und ein unheimlicher Serienkiller Frauen (zumeist schwarze Prostituierte) ermordete.
Lansdales Roman ist, was Raum und Atmosphäre angeht, zugleich historisch, lehrreich, analytisch – spannend. Aber diese Spannung kommt eben nicht aus der Handlung selbst. Sie entsteht, indem die unterschiedlichen Atmosphärenschichten gegeneinander prallen, sich verbinden oder bekämpfen. Da korrelieren Bedrohliches und Heimelig-Privates, Tom-Sawyer-Romantik vermengt sich mit Kriegspsychosen, Dummheit trifft Weisheit und heraus kommt die alltägliche Banalität des Scheiterns.
Ja doch: Es gibt einen Mörder, der schreckliche Dinge tut, und bis zum Ende wissen wir auch nicht, wer sich hinter ihm verbirgt (obwohl man schnell eine Ahnung hat). Menschen werden bedroht, verfolgt, ringen um ihr Leben, ihre Existenz, ihren Seelenfrieden. Handlungsschwanger nennt man das. Und dennoch: Wer das ALLEIN für spannend hält, hat Lansdales Roman nur zu einem Bruchteil gelesen. Die Spannung entsteht, noch einmal, aus der Zusammensetzung der Atmosphäre, und die Atmosphäre entsteht aus dem exakten Gebrauch der Requisiten, die ein Autor von Kriminalromanen zur Verfügung hat, um Spannung zu erzeugen.
Sein Hauptrequisit ist die Sprache. Sie ist gleichzeitig die Kamera des Autors, sie bestimmt, wohin wir schauen, aus welchem Blickwinkel wir etwas betrachten, in welchem Licht etwas erscheint. Die Handlung mag völlig „spannungslos“ sein. Nehmen wir Raymond Chandler. Schnürt uns da etwas die Kehle zu? Selbst dort, wo ein Chandler-Roman mit Whodonit-Elementen spielt, reizt uns das Täterrätsel kaum. Tatsächlich kommt die Spannung aus der von Sprache hergestellten Atmosphäre, und die Sprache passt sich der Atmosphäre an. Henne und Ei? Große Literatur ist es immer, wenn ich genau das nicht entscheiden kann.
Bis hierhin. Die Crime School ist an einem Punkt angelangt, an dem sie etwas verschnaufen muss. Nicht zuletzt auch deshalb, weil allzu viel Theorie, und sei sie auch noch so von praktischen Beispielen durchsetzt, auf die Dauer den Gegenstand so sehr abstrahiert, dass man ihn nicht mehr als solchen erkennen kann. Deshalb jetzt das summer camp, wo vieles von dem, was wir bislang theoretisch gelernt haben, praktisch umgesetzt werden soll. Dazu in den nächsten Tagen mehr.
Zu der Absicht, die Crime School als Buch umzusetzen, sei folgendes, nicht ohne tiefstes Bedauern, vermeldet: Nein. So nicht. Das Interesse an einer solchen Ausgabe scheint sehr gering zu sein oder, auch möglich, meine Möglichkeit, so etwas zu promoten, zu beschränkt. Ein schönes Konzept liegt vor, und wenn ein Verlag Interesse hat, mag er sich bei mir melden. Schade eigentlich.
Und auf die neue Kommentarfunktion möchte ich noch einmal hinweisen. Wer es lieber privat mag, kann wie immer hier mailen.