Andrew Taylor: Der Schlaf der Toten

Doch, mir hat Andrew Taylors Roman „Der Schlaf der Toten“ auch gefallen. Vorzugsweise im Lehnsessel zu schmökern, draußen schneit es, drinnen prasselt das Ferngas romantisch im Heizkörper, und wenns schaurig wird, dimmt man die Beleuchtung auf Zwielicht. Was also inhaltliche Wiedergabe und summarische Bewertung angehen: siehe die →Rezension des Kollegen Menke. Willkommene Gelegenheit, zwei spezielle Punkte näher zu beleuchten. Einen, der bei Ludger keine Erwähnung findet, einen anderen, in dem ich ihm – nicht widerspreche, aber ihn doch etwas ergänzen möchte.

Taylor hat ein gefährliches Buch geschrieben. Gefährlich für den Autor, denn ob er will oder nicht, man wird ihn mit den großen Vorbildern vergleichen, mit Charles Dickens, Wilkie Collins, den Meistern des „viktorianischen Romans“ also, obwohl die Handlung von „Der Schlaf der Toten“ nicht, wie klappentexten behauptet, viktorianisch ist, sondern schon 1819/1820 spielt, Stücker 18 Jahre, bevor die rundliche Königin den Thron besteigt.

571 Seiten lang also bewegt sich Taylor in der Tradition der Riesen. Das ist anachronistisch, aber legitim, süffig geschriebene Historie verkauft sich immer, ein Terrain für Nostalgiker und Weltflüchter, indes: nicht unvermint. Denn Dickens’ Kunst etwa bestand nicht darin, möglichst dicke Romane zu schreiben, sondern in der virtuosen Beherrschung des Erzähltempos. Da wird „entschleunigt“, werden Zustände und Kulissen abgebildet, die plötzlich in Bewegung geraten, zu Ereignissen kulminieren, da gerät man scheinbar auf Nebengeleise, verirrt sich im Nachvollzug seltsamer, weil längst vergessener Alltagsdinge, aber all das hat Methode, ist nicht nur Füllsel, wie heutzutage leider zu oft, sondern Teil der Dramatik. Taylor, das muss man ihm lassen, hat die Erzähltempi gut im Griff und wirkt hinsichtlich des Ablaufs der Ereignisse an keiner Stelle unglaubwürdig.

Doch Dickens und einige seiner Zeitgenossen waren auch begnadete Porträtisten von Menschen und ihren Lebensumständen. Hier kann Taylor nicht mithalten, weil seine Informationen zwangsläufig solche aus zweiter Hand sind. Ein Manko sämtlicher „historischen Krimis“, die im Nachhinein Atmosphären erschaffen wollen und dabei schon auf erschaffene Atmosphären zurückgreifen müssen. Wohl führt uns auch Taylor aus den Salons der guten Gesellschaft in die kloakigen Londoner Slums und wieder zurück, ins ländliche Winteridyll gleichermaßen, an heimelige Kamine und in gruselige Eiskeller, macht uns mit allerlei Käuzen und bemitleidenswerten Geschöpfen bekannt. Die bleiben aber – immer verglichen mit den literarischen Vorbildern – etwas zu grob gezeichnet und blass. Taylor, das sei hier betont, bewältigt die Herausforderungen befriedigend und fernab des Peinlichen, nicht zuletzt durch seine niemals aufgesetzt wirkende oder als holpriges Imitat angelegte Stilistik.

Kommen wir nun zu jenem Edgar Allan, dem wir in Taylors Roman als einem zehnjährigen amerikanischen Jungen begegnen. Die Strategie des Autors ist klar: Er webt Faktisches in seinen fiktiven Teppich, die „englischen Jahre“ des großen Poe eben, wie der sie in der Erzählung →„William Wilson“ hinsichtlich seiner schulischen Zeit im privaten Lehrinstitut des Reverend Barnsby andeutet. Auch das „William Wilson“ beherrschende Doppelgänger-Motiv findet in „Der Schlaf der Toten“ seine Verwendung, sogar gleich zweimal. Von kleineren Anspielungen wie auf „The Raven“ oder das „Lebendig begraben“-Trauma abgesehen.

Aber mit dem „Doppelgänger-Motiv“ wären wir auch schon beim springenden Punkt. Es geht Taylor keinesfalls darum, die Welt des Edgar Allan Poe zu analysieren. Er setzt vielmehr die Trivialisierung des OEuvres fort, indem für das „Abgründige, Schaurige“ von Poes Erzählungen eine fiktive Begründung nachgeliefert wird. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, wenn man es als Teil einer durchaus originellen Unterhaltungsstrategie begreift. Gerade „William Wilson“ zeigt jedoch auch den Einfluss der deutschen Romantik und des Schauerromans auf Poes Werk und verweist dadurch auf die tiefere Bedeutung des Motivs. Es geht um Psychologie, um Analyse, um die Unvereinbarkeit von Physis und Psyche, Bewusstsein und Triebhaftigkeit. In Poes Umsetzung ein bedeutender Beitrag zur modernen Literatur und ihrer Sprache. Bei Taylor hingegen heißt „Doppelgänger“ genau das, was es in fast jedem Krimi dieser Art heißt: Es kommt zu schlichten Personenverwechslungen, aus denen sich Verwicklungen, Mutmaßungen, Verdächtigungen ergeben.

Man kann Taylors Roman wirklich auch genießen, wenn man der Poe-Geschichte keine oder nur periphere Bedeutung zugesteht. Vollends gelungen wäre die Lektüre, fühlte man sich animiert, wieder einmal zu Collins oder Dickens zu greifen, des Letzteren „Bleakhouse“ sei hier ausdrücklich empfohlen. Dass auch Poe von Zeit zu Zeit zur Pflichtlektüre des Krimifreundes gehören sollte, versteht sich von selbst.

Andrew Taylor: Der Schlaf der Toten. 
Goldmann 2005. 571 Seiten, 12 €

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