Robert Littell: Die kalte Legende

Der Himmel bewahre uns vor Krimischaffenden, die eine einzige, natürlich „große und originelle“ Idee zu 400-Seiten-Schmökern auswalzen und diesen Fladen mit den Köstlichkeiten literarischer Normpizzen belegen. Der Himmel schenke uns mehr Autoren wie Robert Littell, die eine einzige, natürlich große und originelle Idee auf 447 Seiten in all ihre Spielarten und Abgründe auseinander schreiben und ein einzigartiges Stück Literatur entstehen lassen.

Martin Odum ist Privatdetektiv in Brooklyn. Keiner der erfolgreichen Sorte, zumal ein Mensch, der sich „zu Tode langweilen“ möchte, was man versteht, kennt man sein Schicksal. Der ehemalige CIA-Agent hat ein Problem mit seinen Legenden, all den erdachten Lebensläufen seiner Geheimdienstkarriere, die ihn eine Zeitlang schützten, bis der biografischen Betrug aufflog. Martin Odum ist also vielleicht gar nicht Martin Odum. Er ist manchmal auch Dante Pippen, Ire, IRA-Mitglied und Sprengstoffexperte, oder Lincoln Dittmann, Spezialist für eine Schlacht des amerikanischen Bürgerkriegs und Waffenhändler. Oder ganz wer anderer. Denn das ist die große Idee Robert Littells: Du bestehst nur aus Legenden, deine wahre Identität ist unbekannt. So geht es Odum, so geht es allen, das ist die Welt.

Punkt. Identitätssuchen haben immer etwas Dröges. Man taumelt durch die Individualpsychologie und rutscht ins „Bedeutend-Allgemeine“, die Küchenphilosophie. Man zitiert Platon (aber nur, wenn man ihn nicht gelesen hat), man bemüht Herrn Hegel und Herrn Schopenhauer in seltener Eintracht (aber nur, wenn man sie nicht verstanden hat), man ummantelt das Traktat krimimäßig (aber nur, wenn man Geld damit verdienen will). Littell macht es anders, er macht es besser, er macht es richtig.

Martin Odums Wunsch nach dem Sterben durch Langeweile wird von der reizenden Stella Kastner und ihrem siechen Vater, einem KGB-Überläufer, zerstört. Die beiden engagieren ihn, um dem Mann von Stellas Schwester zu finden, der spurlos aus einer orthodoxen jüdischen Siedlung in Israel verschwunden ist. Ein Russe, Neffe eines berüchtigten „Oligarchen“, das macht die Sache nicht einfacher. Dabei geht es nur um eine Art Scheidungsurkunde, die der entsprungene Ehemann unterschreiben soll, um seiner Frau die Wiederverheiratung zu ermöglichen.

Die CIA hat etwas gegen Odums Auftrag, andere auch. Es beginnt eine Reise zu den unterschiedlichsten Weltschauplätzen, es werden Leute ermordet. Und die große Idee von den Legenden, aus denen man nicht entkommen kann, die längst Identität geworden sind, zerfließt allmählich, aus dem Tintenklecks der Theorie wird der dünne Film Wahrhaftigkeit, der sich um alles legt.

Denn Odum leidet nicht unter seiner Identitätslosigkeit. Das ist Littells erster genialer Schachzug. Zwar konsultiert er eine Psychiaterin, doch nur, weil das eben so zu sein hat bei CIA-Agenten, die nicht mehr richtig funktionieren. Seelenfahrten mit eingebauter Analyse bleiben uns so erspart. Wir lernen Menschen kennen, denen es genauso geht wie Odum, mal mehr oder weniger dramatisch. Ein Taxifahrer nimmt tageweise den Namen des toten Bruders an, um der Mutter einen Gefallen zu tun; eine Sekretärin, frisch verheiratet, meldet sich immer noch mit den alten Namen, um Missverständnisse zu vermeiden; eine Prostituierte im finstersten südamerikanischen Puff ist eigentlich aus guter italienischer Familie und schlüpft perfekt in diese Rolle zurück.

Zweiter Schritt. Auch das große Firmament über diesen privaten Schicksalen besteht aus solchen Legendenleben. Osama Bin Laden, den Lincoln Dittmann in Südamerika aufspürt, mag ja ein gewissenloser Terrorist sein. Ein höflicher Mensch ist er aber auch, ein charismatischer Führer, dem man Respekt zollen sollte. Der entsprungener Gatte, selbst Großgangster, kann auch Wohltäter sein. Und die Führungsoffizierin von der CIA will die Welt verbessern, indem sie sie verschlechtert. Eine Identität reicht dazu nicht aus.

Dritter Schritt. Selbst die Zeit wird transzendiert / perforiert / repetiert. Dittmanns Legende weist zurück in die Wirren des amerikanischen Bürgerkriegs, den er selbst erlebt zu haben vorgibt. Die Vergangenheit als die Summe der Reibungen vieler Legenden taucht plötzlich in Litauen wieder auf, wo sich Katholen und Orthodoxe Christen um die Gebeine eines angeblich Heiligen bekriegen, was die finstere Vergangenheit in die Gegenwart holt. Und im Aralsee erleben wir eine Szene wie aus einem düsteren Zukunftsfilm: Räuberkreaturen in verseuchtem Gebiet, Menschenversuche, blanke Gewalt.

So also verläuft sich die große Idee von den verschiedenen Seelen in unseren Brüsten und wird zum Normalfall. Immer wieder scheint die politische Realität durch, der Staatsterrorismus ebenso wie der ideologische, die Raffgier, der Zynismus, der Alltag.

Das Beste, das Unglaublichste aber: All das ist ein spannender Thriller. Dramaturgisch filigran entwickelt, actionreich ohne peinliche Versatzstücke, sprachlich punktgenau, ohne Füllsel, spannend bis zum Schluss, der eine weitere Legende des Martin Odum für uns bereithält und mit einem labilen Happyend aufwartet.

Und das alles ist, wie gesagt, aus einer einzigen Idee geworden. Ein Stück tiefe, spannende Literatur. Hab ein Einsehen, Himmel, schenk uns mehr davon.

Ach ja: Dass der Titel der deutschen Übersetzung die Absichten des Autors konterkariert, der nicht ohne Hintergedanken ein Buch namens „Legends“ geschrieben hat, ist schon mehrfach von anderen Kritikern erwähnt worden. Und jetzt auch hier.

Robert Littell: Die kalte Legende. 
Scherz 2006. 447 Seiten. 19,90 €

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