Die Welt im Rucksack

„Sein Rucksack enthielt eine detaillierte Wanderkarte, einen Kompaß und ein Fernglas, zwei Sandwiches mit Käse und Gurken, einen Keksriegel mit Pfefferminzgeschmack, einen Apfel und eine kleine Fleischpastete. Außerdem Schokoladenbonbons für Jess, eine Flasche Wasser für beide und ein zerfleddertes Buch des Tierschutzvereins über heimische Vögel. Erst vor kurzem hatte er sich dazu durchringen können, den in Deutschland hergestellten Wanderstock mit Federung zu benutzen, den ihm eine seiner Nichten vor drei Jahren gekauft hatte.“

Na, jetzt aber! Was soll denn das? Hier hatte einer zuviel Weiß auf dem Papier, eine unmenschliche Verlagsvorgabe („450 Seiten, Mann, Sie wollen Ihr Buch doch verkaufen, ja?“) oder ganz einfach die gewöhnliche Wörterdiarrhoe, jene unter Spannungsproduzenten epidemisch grassierende Erkrankung der künstlerischen Form.

Blickten wir in den Rucksack des Protagonisten, es wäre nicht so arg, gäbe uns vielleicht Ausschluss über den Ordnungssinn des Charakters, seine Essgewohnheiten oder – man beachte den jahrelang verschmähten Wanderstock – eine gewisse Germanophobie des – natürlich angelsächsischen – Helden. Aber nein; der, in dessen Rucksack wir einen Blick zu tun gezwungen sind, ist eine Charge am Rande der Handlung, nur erfunden, um eine Strickjacke zu finden, die einem vermissten Mädchen gehört. „Ein Wanderer und sein Hund fanden die Strickjacke, sie lag…“ etc., ein knapper Satz, mehr braucht es doch nicht, oder?

Also unerklärlich. Und so überraschend. Befindet sich doch der eingangs zitierte Absatz (immerhin fast 1/3 Buchseite!) in „Schrei nicht so laut“ von John Harvey, einem Werk, dem noch vorgestern an dieser Stelle die Kunst des Redens durch Schweigen bescheinigt wurde, perfekte Ökonomie in den Dialogen obendrein. Ein Faux Pas des Autors? Hatte er Kopfschmerzen? Eine beginnende Schreibblockade, die er durch das Notieren solcher Belanglosigkeit kaschieren, gar überlisten wollte?

Szenenwechsel. Vladimir Nabokov, auch als Literaturanalyst ein seltener Glücksfall des Jahrhunderts, erklärt uns Nikolai Gogols „Die toten Seelen“ (auch eine Art Kriminalroman, hm, von einem Manne gelesen, der auch eine Art Kriminalromane geschrieben hat, hmhm).

„Bei Werken von Gogol wie Der Revisor nehme ich mir mit Vergnügen die Randgestalten vor, die das Gewebe des Hintergrunds beleben.“

Hatte Harvey Ähnliches im Sinn, als er uns mit jener Randfigur beglückte? Und warum der Blick in den Rucksack? Was hat das zu bedeuten?

Ein Mädchen ist verschwunden, alle Anzeichen sprechen dafür, dass es entführt wurde, tagelang gequält und schließlich getötet. Die Eltern, die Polizei, die Presse: alles ist in Aufruhr, überschlägt sich, spekuliert, hofft, spürt aber im Innersten, dass das Schlimmste stattgefunden hat. Und genau in dieser Situation setzt Harvey einen Kontrapunkt, der das Gefühlschaos erst richtig begreifbar macht. Für wenige Zeilen nur werden wir mit einem Stillleben aus der geordneten Welt konfrontiert, wo alles an seinem Platz ist, jede Eventualität bedacht. Im Rucksack des Wanderers befindet sich eine ganze Existenz, die nichts aus dem Lot bringt. Wenn sie sich verirrt, hat sie die entsprechenden Instrumente dabei, ihren Weg zu finden, hat sie Hunger und Durst, vermag sie beides zu stillen, taucht ein Vogel auf, den sie nicht kennt, schlägt sie einfach nach. Und dann natürlich der Wanderstock, ein Geschenk der Nichte, auch hier ist alles in Ordnung, ein harmonisches Familienleben.

Und auf einmal sehen wir die vorgebliche Platzverschwendung anders. Hier hat ein Autor nicht vor sich hin fabuliert, weil ihm gerade danach war, nein, er hat in wenigen Sätzen eine Gegenwelt gezeichnet, die die Schrecken der Haupthandlung unterstreicht.

Unser wandernder Rentner ist also weder überflüssig noch von jener holzschnittartigen Beschaffenheit, die AutorInnen so fürchten, wenn sie ihnen in Kritiken vorgehalten wird. Sie wehren sich dann, wenn sie es nicht besser können, durch bloße Materialschlachten, jede Bewegung, jeder Gedanke des Protagonisten und der weiteren Hauptpersonen wird expliziert und gleichzeitig gedeutet. Dass aber gerade durch diese Methode Holzschnittartiges entsteht, Beliebiges und in seiner Detailliertheit letztlich Unkenntliches, hat sich leider noch nicht herumgesprochen. Dabei glücken komplexe Einblicke in Menschen manchmal schon mit einzelnen Wörtern, Halbsätzen, Gesten. Auch das hat Vladimir Nabokov gewusst.

„Aber Gogol gebot noch über einen anderen Kunstgriff – die Randgestalten seines Romans [„Die toten Seelen“, dpr] entstehen aus den Nebensätzen, die die verschiedenen Metaphern, Vergleiche und lyrischen Ausbrüche im Roman liefern. Wir sehen uns hier dem bemerkenswerten Phänomen gegenüber, daß aus bloße Redefiguren unmittelbar lebendige Gestalten entstehen.“

(Zitate aus: John Harvey: Schrei nicht so laut, dtv 2007, S. 280; Vladimir Nabokov: Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der russischen Literatur. S. Fischer Verlag 1991, S. 46f)

10 Gedanken zu „Die Welt im Rucksack“

  1. na ja, lieber dpr, der Symbolrucksack ist schon arg voll mit Kompass und Karte und Vogelbestimmbuch und Apfel und deutschem Wanderstock und Wasser und Pfefferminz. Rentner trifft Leiche als Clash of Cultures? Grüße!

  2. Nee, die Leiche trifft er ja nicht. Er findet nur ihre Strickjacke. Aber wir treffen einen Rentner und finden für ein paar Seiten in eine andere, eine völlig normale Welt. Das katapuliert uns nun nicht aus der Kriminalhandlung, aber für diese paar Seiten kommen wir vom Weg ab. Find ich schön, find ich gut, wie das bei Harvey überhaupt mehrmals geschieht, etwa wenn er die Rennen seiner im Laufsport engagierten Tochter schildert, dieses Übersichtliche: Wer als erste durchs Ziel kommt, hat gewonnen. Wer verloren hat, muss sich halt noch mehr quälen, um beim nächsten Mal…das ist sehr hübsch die Mär von der Leistungsgesellschaft versinnbildlicht, während uns dann auf den nächsten Seiten die Loser übern Weg laufen und nicht wettrennen, sondern wegrennen.
    Übrigens: Die Randfiguren bei Nabokov. Schönes Thema auch das, aber natürlich nicht in einem Krimiblog…

    bye
    dpr

  3. Mir kommt das auch ein bisschen überinterpretiert vor, lieber Herr dpr. Das könnte ich von jeder nutzlosen, aufgeblasenen, langweiligen Creative-writing-Aufzählung auch sagen: dass sie mich in eine andere Welt katapultiert.

    Aber ohne den Roman zu kennen, kann ich nu nicht sagen, ob ich dir recht gebe. Mach mal ja keine Theorie draus. Es scheint mir nämlich, wenn das wirklich so ist, ein völliger Einzelfall zu sein. Glauben tu ich’s nicht. (So sind wir Westfalen: erst mal bis zum Zaun gucken und nich weiter.)

  4. Bis zum Zaun, je nun, aber wo verläuft der? Um eine solche Aufzählung herum, die dann „creative writing“ sein muss? Wir wollen die Linie doch etwas großzügiger ziehen und auf den Roman ausdehnen. Und da ist es nun einmal so, dass sich Harvey als das Gegenteil eines Schwätzers erweist. Warum also ausgerechnet hier dieses scheinbar sinn- und zwecklose Aufzählen? Die „andere Welt“ entsteht ja nur dann, wenn sie mit der Hauptwelt des Romans kontrastiert. Es gibt im gesamten Buch nur diese eine Szene, in der eine eigentlich völlig überflüssige Person dermaßen „overdressed“ vorgeführt wird. Da halte ich es schon für angebracht, sich zu fragen, warum der Ökonom Harvey so gegen seine eigentlichen Prinzipien handelt. Bei mir als Leser gab es jedenfalls sofort diese Reaktion, dass mich der Wandersmann für einen Moment aus der eigentlichen Kriminalhandlung gezogen hat, um mich gleich darauf wieder – und rabiater – in dieselbe zu werfen. Das nenne ich eine Feinheit des Erzählens. Also Überreaktion? Vielleicht sind unsere Lesenerven schon so abgestumpft, dass wir etwas, das zum Handwerkszeug eines soliden Autors gehören sollte, schon gar nicht mehr wahrnehmen?

    fragt ja nur und sagt bye
    dpr

  5. Von einer Überinterpretation durch dpr würde ich nicht sprechen (zumal mir bei einem so gepackten Rucksack die Verballhornung des Wandsbecker Boten in den Sinn kommt: „Asinus omnia sua secum portans“). Schwere Symbolik schon: Unser Rentner nimmt alles mit, was sein Leben ‚im Zaun‘ hält, nämlich Orientierungs- und Lebensmittel, einzeln aufgezählt. Was nicht verhindert, daß er auf einen Gegenstand trifft, der den Kontext gewechselt hat und als Indiz (Zeichen für die andere Welt, jenseits des Zaunes) fungiert. Aber jetzt müßte ich den Text lesen, um die Behauptung ’schwerer Symbolisierung‘ aufrecht zu erhalten. Mach‘ ich aber nicht. Grüße!

  6. Sag ich ja: Dass wir nichts dazu sagen können, weil wir den Text nicht kennen. (Und ich, kann ich noch hinzufügen, werde ihn auch so schnell nicht kennenlernen: Später mal, wenn ich auf Rente bin und Zeit zum lesen habe… Obwohl, jetzt würde es mich fast interessieren.)

  7. Lieber dpr, ich finde Deine Interpretation überzeugend. Harold Edge, Mitglied der East Nottinghamshire Senior Ramblers, also einer Wandertruppe älterer Mitbürger, verkörpert ein England jenseits all der kaputten Familien und zerstörten Existenzen, mit denen sich Frank Elder herumschlagen muss. Er hat ja sogar Nichten, die ihm fürsorglich einen deutschen Wanderstock schenken. Über Elder hingegen erfahren wir sofort zu Beginn des nächsten Kapitels, wie er sich verhalten hat, als seine Ehe zerbrach. Die Möglichkeit indiviuellen Glücks ist in den Frank Elder-Romanen übrigens durchaus präsent und zwar in einer anderen Nebenfigur: Von Charlie Resnick, Ermittler in zehn früheren Romanen John Harveys, erfährt man nämlich so ganz nebenbei, dass er nun in einer glücklichen Beziehung mit einer einige Jahre jüngenen Frau lebe, was übrigens kaum einer seiner Kollegen wirklich glauben mag.
    Und noch was: Auf dem Käsesandwich, das Harold Edge im Rucksack, befinden sich natürlich keine Gurken, sondern klassisch-britisch „Pickle“, also eine süß-saure zähflüssige Masse, die sich der Engländer gerne aufs Brot schmiert.
    Schönes Wochenende
    Joachim

  8. Die Rucksack-Passage ist ja nur EIN Steinchen in diesem Mosaik. Bis zum Schluss (den ich natürlich hier nicht verraten werde) gibt es dieses Nebeneinander von heiler und missratener Welt, nicht zuletzt in den Täter- und Opferpersonen.
    Aber noch mal zum Rucksack. Das ist natürlich ein Symbolrucksack, lieber JL, etwas, das uns an anderen Texten so wahnsinnig stören kann. Aber kein erzählerisches Element ist per se gut oder schlecht. Wir schreien ja auch nicht „Schund!“, wenn uns Pynchon etwas in der Diktion von Groschenheftschreibern erzählt. Und gerade im Kriminalroman ist der vorstehend bemühte Zaun etwas sehr Gefährliches. Die Klasse eines Kriminalromans besteht kaum darin, die trivialen Elemente des Genres außen vor zu lassen. Ganz im Gegenteil.

    bye
    dpr

  9. @Georg: ‚Passagendiskussion‘ hat mindestens heuristischen Wert (‚für wenn ich lese‘).
    @dpr (11:18): d’accord. (Und warum sollte der Rucksack, in dem eh schon die Medien stecken, nicht auch noch ein selbstreflexives Täschchen haben — sozusagen neben dem für das Mobiltelefon … Aber auch das gilt ‚für wenn ich lese‘.)

  10. Schon recht, JL, aber heuristisch hätte ich das nicht gebraucht. In meinem Lesedasein warte ich immer darauf, dass mich etwas stört und frage mich dann: Warum? Wenn mich etwas nicht stört und ich es trotzdem ungewöhnlich finde, merke ich mir das auch und freue mich. So Arno Schmidt: alles sehr ungewöhnlich und meistens passend.

    So, jetzt aber Theater: Goldberg-Variationen. Auch sehr ungewöhnlich. Und sehr passend.

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