Lee Child: One Shot

Wenn ein erfahrener Krimikritiker wie Tobias Gohlis gesteht, dass er innerhalb kürzester Zeit sämtliche Bücher einer Serie verschlungen hat, weil ihn diese so sehr fesselte, dann ist das sicherlich ein großes Lob. Lee Child, dem dieses Kompliment zuteil wurde, verbindet in seiner Serie um den einsamen Wolf Jack Reacher in überragender Weise das Rätsel und den Thrill.

Reacher, der in der Tradition John D. Macdonalds Travis McGhee oder Richard S. Prathers Shell Scott steht und der deren Abneigung, ihre überlegene Physis und Kampferfahrung einzusetzen teilt, ist nicht nur ein besonderer Kämpfer für die Gerechtigkeit gegen das Böse dieser Welt, sondern auch ein außergewöhnlicher Spurenleser, der aus kleinsten Details scheinbar zwingende Schlüsse zieht. Dieses Spurenlesen, welches immer wieder fasziniert und in seiner Unnachvollziehbarkeit durchaus eine Nähe zu der Arbeit Poirots hat, verknüpft Child mit spannenden Plots, die knistern wie die Holzscheite im Ofen.

Auch „One Shot“ ist entsprechend aufgebaut. Wir sehen, wie ein Scharfschütze minutiös einen Job vorbreitet. Am Ende hat er vier Menschen mit fünf Patronen erschossen und wir lernen, dass diese Quote Durchschnitt für einen Scharfschützen im Krieg ist. Wenige Stunden später wird ein Mann verhaftet – die Indizien wirken überwältigend. Seinem Anwalt gegenüber sagt er nur, dass der falsche Typ verhaftet wurde und dass man Jack Reacher holen möge … wenige Stunden später liegt er auf der Intensivstation und als er wieder erwacht, hat er sein Gedächtnis verloren.

Reacher wundert sich, warum ein so gewissenhaft vorbereiteter Anschlag eine Spur so breit wie ein Elefant im Porzellanladen zurücklässt. Es sind weitere kleinere Ungereimtheiten, auf die er stößt und plötzlich sind wir mitten drin in der „Reacher-Welt“, wo es scheinbar kein Entrinnen für Reacher gibt; vor der Polizei, die ihn als unbequemen Querulanten ausschalten möchte und den Gaunern, die ihn als Bedrohung empfinden.

Schon mit dem ersten Satz in seinem ersten Buch „Killing Floor“ hatte Child deutlich gemacht, dass er ein außergewöhnlicher Schreiber ist. Manche seiner Absätze lassen fast eine stilistische Nähe zu James Ellroy ahnen.

A local anchor called Ann Yanni came on. She recapped the events of the night before. Sniper slaying. Senseless slaughter. An automatic weapon. A parking garage. A public plaza. Commuters on their way home after a long working week. Five dead. A suspect in custody, but a city still grieving.

Lee Child schreibt ökonomisch wie nur wenige. Durchaus mit trockenem Humor, extrem fokussiert und mit dem Gefühl für Überraschungen und der richtigen Länge der Spannungsbögen. Und so endet „One Shot“ auch furios.

Seine Bücher haben nicht nur außergewöhnliches Niveau, sondern sind auch stilistisch eigenständig und arbeiten weniger mit den allgemein üblichen Versatzstücken als die der meisten seiner Kollegen. Natürlich, wenn man wollte, könnte man drüber meckern, dass Childs Reacher keine weltanschauliche Agenda hat und dass ihn scheinbar gar nichts tief beeindrucken kann; aber das ginge am Kern der Sache vorbei. Wie die meisten seiner Bücher ist „One Shoot“ ein Maßstab, an dem die der Bücher seiner „Thriller-Kollegen“ zu messen sind.

Lee Child: One Shot. 
Random house 2006. 496 Seiten. 8,30 €
(nochkeine deutsche Übersetzung)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert