Wie weit darf man gehen?

Rick DeMarinis Roman „Kaputt in El Paso“ ist ein Text über Grenzerfahrungen oder, was nur ein anderes Wort dafür ist, über das Verwischen von Grenzen, die Entgrenzung. Dass er in El Paso, also unmittelbar an der Grenze zu Mexiko und somit dem, was wir die „Dritte Welt“ nennen, spielt, ist natürlich kein Zufall.

Dass es aber mit diesen Grenzerfahrungen nicht so banal ist, wie es scheinen mag, zeigt DeMarinis gegen Ende seines Romans in einem Dialog zwischen dem Protagonisten Uriah Walkinghorse und einem mexikanischen Drogenbaron. Die beiden sind mit dem Wagen durch die Wüste unterwegs, eine Spazierfahrt soll es nicht werden, denn der Drogenchef will Uriah Walkinghorse am Ende der Reise töten. Irgendwann wird es moralisch. Walkinghorse wirft dem Mexikaner vor, Leid über die Menschen zu bringen, der Mexikaner kontert mit dem Hinweis auf „die vulgären, dummen Filme, die die Gringos weltweit exportieren“ und die doch so viel mehr Leid brächten. Er schließt seine Rede in einer großen allgemeinen Geste:

„Euer Wohlstand basiert auf Sklavenarbeit. Nun ja, aber hat Ihre Nation nicht genau so angefangen? War das nicht die Grundlage des ganz frühen Wohlstandes? Einerseits stellen Sie moralische Betrachtungen über die Freiheit an, andererseits versklaven Sie andere. Also bitte, Mr. Walkinghorse, maßen Sie sich nicht an, mir Belehrungen in Sachen Moral zu erteilen.“

So spricht ein Drogengroßhändler zu dem Mann, den er zu töten beabsichtigt. Aber es ist ja noch viel grenzwertiger. So spricht auch die „Dritte Welt“ zur „Ersten Welt“. Und noch komplizierter: So spricht ein Vertreter der „Dritten Welt“, der längst nicht mehr zu ihr gehört, sondern sich der Gewinnmaximierungsmechanismen des fortgeschrittenen Kapitalismus bedient, zu einem Vertreter der „Ersten Welt“, der in dieser als armer Tropf dahinvegetieren und sich in allerhand lausigen Jobs prostituieren muss. Also, mit Nietzsche, eine „Umwertung aller Werte“ und Maßstäbe, wo Grenzen sein sollten, sind sie nicht mehr oder es sind ganz andere.

Doch während ich versuche, den Text „auszulesen“, seine Bedeutungsebenen zu erfassen, ihn also gewissermaßen auch zu entgrenzen, kommt mir der leise Verdacht, diesen Text allmählich aus den Augen zu verlieren. Was nicht weiter schlimm wäre. Literatur ist dazu da, sich in unserer Leserwirklichkeit festzuhaken, sie gewissermaßen aus ihrer Lethargie zu ERlösen und einen Denk- und Assoziationsprozess AUSzulösen. Ein „Lesemodell“ entsteht, das, je weiter es gedeiht, immer weniger über den Text, dafür um so mehr über den, der ihn liest und verarbeitet, aussagt. Noch einmal: Das ist völlig in Ordnung, so soll es sein.

Die Frage, die ich mir anlässlich der Rezension von DeMarinis Buch gestellt habe, muss vor diesem Hintergrund also geradezu ketzerisch, ja völlig unsinnig sein: Wie weit dürfen wir (ich meine jetzt nicht die LeserInnen, sondern die RezensentInnen) bei der Besprechung eines Buches gehen? Müssen wir Sorge tragen, den Text nicht aus den Augen zu verlieren oder stehen wir als Entwickler eines, nämlich unseres Lesemodells nicht pars pro für den Leser an sich?

Rick DeMarinis Buch ist ein Kriminalroman, kein Zweifel. Es steckt in einem Körper namens Genre namens „Krimi“, hat also selbst Grenzen. Die nicht eindeutig sind, natürlich nicht. Wir erkennen Elemente des Whodunnit, des Noir, des Pulp, vielleicht sogar des „politischen und gesellschaftskritischen“ Krimis. Das ist der Ausgangspunkt. LeserInnen greifen zu diesem Buch, weil sie einen Krimi lesen wollen und DeMarinis bedient sie vorzüglich. Ich wage sogar die Behauptung, dass er uns jenseits aller Spekulationen über Lesemodelle schlicht ein paar unterhaltsame Lektürestunden verschafft und uns gemahnt, an das Herkommen des „Krimis“ (nicht des KriminalROMANS an sich, dazu gleich noch etwas) zu denken, aus der puren Trivialialität nämlich kommt der, aus der Kolportage, dem Bedürfnis nach Flucht, nach Pläsir, nach Nervenkitzel, nach Zeitvertreib. Der Krimi, wie gesagt.

Der KriminalROMAN eben nicht. Eine kurze Abschweifung zu den Wurzeln des deutschen Kriminalromans. Zwischen etwa 1850 und 1890 erleben wir diesen als zwar bisweilen triviales, doch selten „ohne Entgrenzungsabsichten“ geschriebenes Produkt. Was logisch ist, denn noch gibt es die KRIMI-Grenzen ja nicht. Selbst in seiner seriellen Form, wie man sie besonders in den einschlägigen Zeitschriften wie der „Gartenlaube“ nachlesen kann, ist der Kriminaltext nicht nach den Maßstäben des „Krimis“ standardisiert. Er fußt vielmehr auf den Maximen von allgemeiner Belletristik, ist Vehikel, verdeutlicht durch Zuspitzung. Carl von Holteis „Schwarzwaldau“ etwa nutzt das Verbrechen, um auf die Entgrenzungen der Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts hinzuweisen und sie bis in die Psyche der Protagonisten weiterzuführen. Emilie Heinrichs’ „Leibrenten“ (noch immer nicht wieder aufgelegt, was ein Skandal ist) sticht „Verbrechen“ in die Kruste der Gesellschaft und gräbt sich damit in deren verdorbenes Inneres. Mit „Krimi“ hat das wenig bis gar nichts zu tun. Weder stellt sich die Frage des „Wer wars“ noch werden wir mit der Perfektion einer Dramaturgie verwöhnt, wie sie sich mit Conan Doyle entwickelte. Für den heutigen, an „Krimis“ gewöhnten Leser müssen diese Romane enttäuschend sein, denn sie schreien geradezu danach, NICHT als Genreprodukte gelesen zu werden.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist es genau dieser Conan Doyle, der die Grundlagen von „Krimi“ legt – und nebenbei dafür sorgt, dass der bislang durchaus geläufige deutsche KriminalROMAN (auch die Kriminalerzählung resp. –novelle) ins Hintertreffen gerät. Was von nun an dominiert, ist Krimi a la Doyle. (Ich differenziere das hier jetzt nicht aus, was man eigentlich müsste. Später vielleicht einmal.)

Diese „Krimis“ sitzen in festen Korsetts. Sie ihrer Grenzen via „Lesemodellen“ berauben zu wollen, ist ein zumeist hoffnungsloses und desillusionierendes Unterfangen, wenngleich es durchaus lohnend sein kann, denn diese „Krimis“, so wenig literarisch anspruchsvoll sie auch daherkommen mögen, verraten uns gelegentlich doch eine Menge über die Zeit, in der sie entstanden sind, über die Denk- und Handlungsweisen der Menschen in dieser Zeit. Aber dafür wurden sie nicht geschrieben. Und so wurden sie auch nicht gelesen.

Ende der Abschweifung, zurück zu DeMarinis. Der einen Krimi geschrieben hat und zugleich einen KriminalROMAN, also etwas in einem Korsett und etwas, das darauf besteht, kein Korsett zu haben, sich im Leser assoziativ zu entfalten, die „Lesemodelltheorie“ eben. Was aber geschieht, wenn ich als Rezensent mich völlig letzterer ergebe? DeMarinis Text lädt dazu ein wie kaum ein zweiter, der mir in letzter Zeit unter die Augen gekommen ist, doch, James Sallis’ „Driver“ wäre noch so ein Kandidat, der mit seinen Zitaten aus dem Baukasten des Genres einerseits und ihrer Zusammensetzung zu einem hochassoziativen, „lesemodellhaltigen“ Text genau diese Frage nach den Grenzen einer Entgrenzung ebenfalls stellt. Konkret: Wie weit darf ich meinem Drang, einen Text zu interpretieren, nachgeben, wenn ich ihn selbst als „Krimi“ nicht aus den Augen verlieren will?

Für Leser stellt sich, noch einmal, diese Frage nicht. Sie werden eh tun, was sie wollen. Sie lesen „Driver“ oder „Kaputt in El Paso“ als Krimis mit dem Akzent auf SPANNUNGSliteratur oder gedankenmachende Romane oder beides oder was auch immer.

Noch einmal die eingangs ausgeführte Szene aus DeMarinis’ Text. Die ist zum einen Krimi pur. Zwei Menschen sind unterwegs, einer will den anderen töten, dieser andere weiß, dass es zu seiner Hinrichtung geht. Sie unterhalten sich wie „zivilisierte Menschen“, so als redeten sie über Fußballergebnisse oder die besten Tacos der Stadt. Das ist NOIR, jene Spielart des „Krimis“ also, die selbst Entgrenzung ist, weil sie die Barriere zwischen Gut und Böse aus dem Weg geräumt hat.

Dann aber entsteht das Lesemodell auf der Grundlage des Krimikorsetts. Ich beginne zu interpretieren, hochzurechnen. Erste Welt, dritte Welt. Bis dahin sehe ich mich noch in Sichtweite zum Text, ja, er kommentiert mir viele der anderen „Grenzerfahrungen“, die sich dort finden lassen. Doch wo wird der Punkt erreicht, an dem ich als REZENSENT einhalten sollte? An dem ich damit beginne, meinen „Bildungsschrott“ über den Text zu kippen? Dass ich das als nichtöffentlicher Leser tue, versteht sich von selbst. Ich kann weiter schwadronieren, ich kann in meinem Kopf einen theoretischen Text über den Zustand einer Welt verfassen, die sich in erste, zweite, dritte teilt etc. Irgendwann ist DeMarinis Text dann vollständig verschwunden.

Nun könnte man einwenden, es spreche gerade für die Qualität des Textes, dass er solches bewerkstelligen kann. Ich habe ihn aus seinem Krimikorsett herausgelöst, weil es genau DeMarinis’ Absicht war, dass solches geschieht. Krimi als Methode, als Werkzeug, so wie das, siehe oben, auch in den Anfangszeiten des deutschen Kriminalromans praktiziert wurde. Das Triviale (und DeMarinis’ Text ist in seinen Elementen zutiefst trivial, was ich als Kompliment verstanden wissen möchte) als Leiter zu Höherem.

So kann man das sehen. Man kann überhaupt mein Problem als ein Nichtproblem eleminieren, aber die Fragen, die es auswirft, scheinen mir doch wichtig genug, um gestellt zu werden. Beantworten kann ich sie nicht, aber die Fragen existieren, als Beobachter der Szene, als Kritiker und Theoretiker werde ich tagtäglich damit konfrontiert. Da gibt es die einen, die „nur“ Krimi schreiben wollen und sich darüber mokieren, wenn das dem Rezensenten nicht genug ist. Es gibt die anderen, die „mehr als Krimi“ schreiben wollen und fürchterlich enttäuscht sind, wenn ihnen der Kritiker entgegenhält, sie hätten nicht einmal Krimi geschrieben, sondern nur etwas, das unter diesem Deckmäntelchen vor sich hin dümpelt und nach „Lesemodell!“ und tieferer Bedeutung schreit. Da gibt es aber auch die Kritiker, die einen Text nur danach beurteilen, ob sie nicht mehr in der Lage sind, „ihn aus der Hand zu legen“. Und da gibt es die anderen, die den Krimi als die zur Zeit einzig vorhandene seriöse Form der Wirklichkeitsbeschreibung und –analyse begreifen, als KriminalLITERATUR eben.

Wie auch immer: Hier treffen zwei Welten aufeinander, Krimi und KriminalLITERATUR, der Text als Binnengeschöpf, als hochspezialisiertes, nur auf Unterhaltung ausgerichtetes Fachwerk, und der Text als Vehikel für Entgrenzungen, für Modelle, für Assoziationen, der seiner Krimigestalt rasch entschlüpft und sie in der Dunkelheit zurücklässt. (Hat, nebenbei, nicht mit dem beliebten Thema „literarischer Krimi“ zu tun.) Aber ich gestehe: Schon die namentliche Unterscheidung macht mir Schwierigkeiten. Denn dass in jedem Kriminalroman auch der ordinäre Krimi steckt und jeder Krimi ein im Prinzip unendlich zu interpretierendes Konstrukt ist, scheint mir die einzige gesicherte Konstante zu sein.

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