David Peace: Nineteen Seventy Seven

Die Lektüre ließ mich ein wenig ratlos zurück. Also habe ich getan, was ich sonst nie tue, bevor ich fertig mit dem Schreiben bin: Gelesen was andere schreiben. Hilft aber auch nicht weiter: Verunsicherung scheint vorzuherrschen. Allein Lars Schafft frönte der ungebremsten Euphorie, um, so scheint’s fast, im nächsten Werk auf den Boden der peace’schen Wirklichkeit zurückgeholt zu werden. Fast könnte man meinen, dass dpr’s kubistische anti-Kritik in der Struktur dem Wesen des Werkes Peace‘ am besten entspricht.

Ein Krimi soll’s sein, als Krimi wollen wir es lesen. Es beginnt mit einem Leichenfund, ein weiterer kommt hinzu, eine Beziehung zu früheren Morden und Mordversuchen wird gezogen … kurz: Ein Serientäter scheint unterwegs zu sein, ein besonders brutaler zudem, der Prostituierte überfällt, mit einem Hammer attackiert und mit einem Schraubenzieher aufschlitzt: Der Yorkshire Ripper ist geboren. Mit großem Aufwand bemüht sich die Polizei um Aufklärung. 80 Personen umfasst die Sonderkommission und auch die Presse ist dran am Thema, hat ihre eigenen Quellen, innerhalb und außerhalb der Polizei und begleitet deren Arbeit. Tatsächlich finden sich ein paar Spuren und Hinweise. Die Blutgruppe des Täters kann anhand von Ejakulatspuren identifiziert werden und Beziehungen der Opfer zu einem schmierigen Pornoblättchen lassen sich ausmachen.
Nicht viel … nicht genug um am Ende den Täter ausfindig zu machen … und so bleiben am Ende viele Fragen offen. Die Polizeiarbeit, sie ist nicht einmal ergründend dargestellt. So wird zwar die Frage aufgeworfen, ob es ein, zwei oder mehrere unterschiedliche Täter sind, aber ‚mal ehrlich: Bedeutend ist das nicht. Nein, als Krimi geht 1977 nicht durch, höchstens als Episode. Zwei Bände der Tetralogie stehen noch aus. Mancher Faden wird wohl wieder aufgenommen werden.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Frage nach dem Krimi, nach seiner Qualität nicht zu beantworten, das wäre als wenn man das zweite Viertel von Thackerays „Vanity Fair“ (deutsch: Jahrmarkt der Eitelkeiten) nähme und für sich, losgelöst vom Gesamtbuch beurteilen wollte.

Nein, man muss sich wohl auf etwas anderes konzentrieren. Auf Peace‘ Stil zum Beispiel. Viel ist darüber geschrieben worden. Hart seien seine Bücher, seine Sprache extremistisch eigenwillig. In der Tat: Peace schont seine Opfer und seine Leser nicht, die Darstellung der Zurichtung der Leichen ist drastisch; besonders relevant oder gar ein Kriterium ist das jedoch nicht unbedingt. „Alle Kultur nach Auschwitz ist Müll“ schrieb Adorno, will sagen, die Realität ist kaum durch die Darstellung in einem Buch zu toppen. Vielleicht herzlos, aber dennoch wahr: Zu „tot“ oder „vergewaltigt“ gibt es keinen Komparativ und keinen Superlativ.

Die Konsequenz und Gnadenlosigkeit, mit der Peace das Leben der Protagonisten abspult, ist bemerkenswert, als Identifikationsobjekte taugen sie jedenfalls nicht. Die beiden Icherzähler, der Polizist Bob Frazer und der Journalist Jack Whitehead sind getriebene, von ihren eigenen und den Dämonen der Opfern besessene Männer. Männer, deren Schwänze anscheinend ständig in Hab-acht-Stellung verharren und die in genau dem Milieu verkehren, aus dem die Opfer stammen.

Frauen haben im Buch nur eine Funktion. Keine Polizistin, keine starke weibliche Person taucht auf, die das Bild bricht. Diese Frauen, Nutten auch und zudem, sind aber mehr als die lebendigen Gummipuppen, als die sie behandelt werden. Sie sind Projektionsflächen männlicher Bedürfnisse nach Wärme, Liebe, Akzeptanz. Irgendwie so was. Genauer bekommen wir’s nicht: Psychologisiert wird bei Peace nicht. Als individuelle Menschen sind die beiden eh nicht zu erkennen. Beim Wechsel des Erzählers am Kapitelanfang ist häufig erst einmal gar nicht klar, wer da nun spricht. Bei Frazer geht die Sehnsucht nach der verbotenen Frau so weit, dass er seine bürgerliche Existenz für diese Nutte auf’s Spiel setzt und wir uns fragen – warum er dieses tut. Wohl, wenn ich es richtig deute, weil er mit ihr den ersten richtig geilen Sex erlebte und diesen, wie ein Crystalsüchtiger, immer wieder sucht.

Die Darstellungen der beiden Männer wachsen sich in meinen Augen deshalb zu einem großen Stück Literatur aus, weil sie in einer berückenden Sprachen, hart rhythmisiert, mit vielen Alliterationen, wüsten Bilder, Versatzstücken aus der Bibel, verschrobenen Szenen, endlos langen, atemlosen Sätzen usw. beschrieben werden. Der extreme Geisteszustand spiegelt sich in der extremen Sprache und katapultiert den Autor damit in Sphären, in denen es wahrlich einsam ist und wohin ihm auch kein Engel mehr folgt (1).

Fazit ? Kein Fazit … zum jetzigen Zeitpunkt. Wo William Kent Kruegers Mercy Fallsals Cliffhanger daherkommt, muss man bei Peace, schon um in dessen Bilderwelt zu bleiben, von einem „coitus interuptus“ sprechen. Es ist das Buch eines der größten Autorentalente und offenbart erst einmal, dass Peace genau nur das ist. Das Verdikt muss aber so lange offen bleiben, bis das Quartett vollständig gelesen ist.

(1) „For Fools rush in where Angels fear to tread“, aus Alexander Popes An Essay on Criticism

David Peace: Nineteen Seventy Seven. 
Serpent's Tail 2001. 352 Seiten. 12,99 €
(deutsch: 1977. Liebeskind 2006, deutsch von Peter Torberg)

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