Renate Kampmann: Fremder Schmerz

Nein, der erste Eindruck täuscht. Zwar liegt es nahe, Renate Kampmanns Romane um die Rechtsmedizinerin Leonie Simon ins Segment der Pathologenkrimis abzuschieben, dort aber fänden sie nur bedingt ihren angemessenen Platz. Wohl wird auch bei Kampmann unermüdlich seziert und mit dem entsprechenden Fachchinesisch wahlweise LeserInnen-Bildung respektive –Ermüdung betrieben, doch die Absichten der Autorin sind profan. Ein Bild der deutschen Gegenwart will sie uns vermitteln. Was, wenigstens zum Teil, sogar gelingt.

Dr. Leonie Simon hat Hamburg verlassen und eine Stelle als Rechtsmedizinerin in Berlin angetreten. Auch dort gerät sie natürlich Hals über Kopf in diverse Mordfälle. Die ersten betreffen einen Kollegen samt Frau; beide werden ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Erschütternd für Dr. Simon, war sie doch mit beiden nach dem Tsunami in Thailand, um dort die Opfer zu identifizieren. Gibt es einen Zusammenhang? Korruption, Veruntreuung von Spendengeldern? Während die Heldin noch grübelt, ereignen sich weitere Morde, Morde der besonderen Art. Irgend jemand foltert Menschen und bringt sie dann um. Nein, „foltern“ ist das falsche Wort. Er scheint Schmerzstudien anzustellen, die Gefangenen sind Versuchskaninchen.

Der Leser wird über die Person dieses „Sadisten“ nicht im Unklaren gelassen. Eine gute Entscheidung, denn jetzt entwickelt Renate Kampmann einen wirklich interessanten Plot, der – verkürzt ausgedrückt – die Sadisten der Nazizeit von unserem Schmerzforscher abgrenzt, und vielleicht doch nicht abgrenzt. Verblüffend und anregend ist dieser Strang der Geschichte allemal.

Selbstverständlich gibt es noch mehr Stränge. Einige dümpeln, wie kaum anders zu erwarten, eher im Privaten, andere greifen auf frühere Abenteuer der Frau Dr. Simon zurück. Die fast 500 Seiten des Buches müssen sich ja aus diversen Quellen speisen. Nicht dass so etwas per se falsch oder für die Dramaturgie des Buches schädlich wäre. Aber einiges ist dann doch zu viel und zeigt deutlich die Schwächen sogenannter „Reihen“ auf. Dazu gehören die Lebensläufe der agierenden Personen. In fast allen gibt es Mordfälle – die Frau, der Bruder, Kinder -, die sich wie die beliebten „Dämonen“ nicht verdrängen lassen. Das ist ein bisschen arg übertrieben, aber eben in einer „Reihe“ kaum zu vermeiden. Auch der Bruder Leonies, den wir im Vorgängerwerk kennenlernten und eigentlich unter den Toten wähnten, hat noch einmal seinen Auftritt. Der Mann übt den krisensicheren Job des „Profikillers“ aus und wird, das ahnt man sofort, zum deus ex machina, als es endlich zum Showdown kommt.

Fast 500 Seiten. Verantwortlich für dieses Volumen ist auch Kampmanns Bestreben, möglichst alle relevanten Themen der bundesdeutschen Gegenwart wenigstens erwähnt zu haben. Neben der bereits angedeuteten Korruptionsgeschichte geht es u.a. um den Skandal innerhalb der sächsischen Justiz und Politik, um Rechtsradikalismus, Vergangenheitsbewältigung, das Rechtssystem und seinen Umgang mit Strafgefangenen… Das ist eine Menge und Renate Kampmann hat durchaus ein Händchen dafür, diese Themen in ihren Krimiplot zu integrieren. Allerdings manchmal auf Kosten ihrer Erzählsprache, die bei dieser Gelegenheit zur Infosprache wird.

Dennoch: Vor allem die Hauptgeschichte ist interessant und auch souverän entwickelt. Bleiben die Altlasten, dieser durchgehende Bezug zu den Vorwerken, und die gewiss gute Absicht, ein möglichst umfassendes Bild unserer Republik abzuliefern. Da hätte man sich ein wenig kritische Auswahl durchaus gewünscht.

Bleibt am Ende die Hoffnung, dass Renate Kampmann das Projekt Leonie Simon für ihr nächstes Buch ruhen lässt. Die Hoffnung ist, nachdem man den Schluss gelesen hat, durchaus begründet. Ein neues, entschlacktes Konzept, meinetwegen ein 300-Seiter, das wäre ein idealer Neuanfang für eine alles in allem talentierte Autorin.

dpr

Renate Kampmann: Fremder Schmerz. 
List 2008. 494 Seiten. 19,90 €

4 Gedanken zu „Renate Kampmann: Fremder Schmerz“

  1. „Eine alles in allem talentierte Autorin“ – na ja. Ich werde jedenfalls nach dieser Beschreibung einen etwas weiteren Bogen um ihre Bücher machen.

  2. Das hatte ich von dir auch gar nicht anders erwartet. Nein, Kampmann-Bücher sind keine Georg-Bücher, aber sie sind auch nicht schlecht. Die Autorin steckt meines Erachtens zu sehr in der Serienfalle – und deshalb auch der Rat, es mal mit einem „Standalone“ zu probieren. Wir werden auch dann keine sprachlichen Höhenflüge erwarten dürfen – aber das Gute an Kriminalliteratur ist ja, dass sie auch mit anderen Mitteln gelingen kann und wir in Punkto Sprache nur Unfallfreiheit erwarten. Du natürlich nicht…

    bye
    dpr

  3. Über Unfallfreiheit wäre ich schon mal sehr froh. Ich erwarte ja gar nichts, ich hoffe immer nur, die Autoren machten sich mal klar, dass sie Literatur schrieben, und wüssten dann auch mit der Sprache umzugehen statt in die Kiste der Abgelutschtheiten, Schludrigkeiten und Gedankenlosigkeiten zu greifen. Auf einem Blog kann ich so etwas noch akzeptieren, auch wenn ich es nicht mag und etwas Sorgfalt auch dort zu schätzen weiß, aber in einem Buch möchte ich dem einfach nicht begegnen.

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