Der Mörder mit den drei Gesichtern

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Der Kurz-Rate-Krimi erlebt eine bemerkenswerte Renaissance. Mit jenem suspense gesegnet, den Patricia Highsmith einst als „fucking thrilly“ literarisch adelte, ist er längst zum unterhaltsamen Kuckucksei geworden, das uns in gebündelter Form den politisch-sozialen Status Quo abbildet, über die Abgründe der Seele informiert und – als von Medizinern empfohlenes Training gegen die Alzheimer-Erkrankung – zugleich unser Deduktionsvermögen herausfordert. Der Kurz-Rate-Krimi hat hinsichtlich seines volksaufklärerischen Gehalts längst die „Sendung mit der Maus“ als wichtigstes Informationsmedium des deutschen Durchschnittsbürgers distanziert. Auch in unserem heutigen Kurz-Rate-Krimi, wie immer von Kurz-Rate-Krimi-Papst Dale Patrick Rutherford verfasst, geht es um Wissenswertes und Essentielles, um das Grauen des Alltags und die Alltäglichkeit des Unfassbaren.

Madeleine Lustig schaute zufrieden auf ihre Armbanduhr. Es war jetzt 18 Uhr 50, ein herrlich sonniger Dienstag; spätestens zwanzig nach sieben wäre der Fall hier abgeschlossen und einem – zunächst kulinarischen – Amüsement mit Kriminalrat Fred Gärtner stünde nichts mehr im Wege. Denn „das hier“, wie es die Lustig nannte, war der eindeutigste Mord ihrer noch jungen Beamtenlaufbahn. In einem breiten Plüschsessel hockte Dr. Meinrad Barenberg, Direktor der Sigmund-Freud-Grundschule, leicht gekrümmt und mit offenem, staunendem Blick, was angesichts der Tatsache, dass ein Messer im ansehnlichen Bauch des Akademikers stak, nicht überraschte. Die Tat war vor der Augen einer gehobenen Gesellschaft aus lauter Stützen derselben geschehen, welche hier, in einer der exklusivsten Villen des Seeviertels, ihren Five-o’clock-Tea zu sich nahmen und über Gott, die Welt sowie deren effiziente Ausbeutung redeten.

Und der Täter hockte, jetzt von zwei Wachtmeistern flankiert, auch schon abführfertig am Tisch. Die Lustig näherte sich ihm interessiert.

Über den Tathergang hatte sie sich durch die Aussage des Hausmädchens instruieren lassen. Ihrzufolge war mitten im traditionellen Five-o’clock-Tea des „Freundeskreises der lithiumverarbeitenden Industrie“ ein Fremder am Dienstboteneingang erschienen, habe zuerst sehr devot und unsicher gewirkt, dann aber das Hausmädchen, welches auf den schönen Namen Emma hörte, mit den Worten „Verpiss dich, du Domestikenschlampe!“ aus dem Weg geräumt, sei ins Teezimmer gepoltert, plötzlich ein Messer in der Hand – und das habe sich schließlich tödlich im Hausherrn, dem Hern Doktor Barenberg, befunden, von dem Manne mit einem zünftigen und sehr mordlustigen „Jetzt gehört die Weltherrschaft mir, du dreckiger polygamer Lump!“ dort zielsicher appliziert.

„Wie heißen Sie?“

„Gerd Bunse. Paul Wirsch. Gunther von der Hitzelburg.“

Madeleine Lustig verschlug es die Sprache. Dann wurde sie ärgerlich.

„Hallo? EINEN Namen, bitte! Dass Sie Herrn Doktor Barenburg heimtückisch vor Zeugen ermordet haben, werden Sie aber doch wohl gestehen!?“

„Nein. Ja. Nein“ antworteten Bunse / Wirsch / von der Hitzelburg in nicht festzulegender Reihenfolge.

„Total meschugge“, murmelte Kriminalassistent Fritz Wiegler, doch bevor die Lustig dies zu bestätigen in der Lage war, betraten zwei Männer und eine Frau, alle in legerer Fünfuhrtee-Garderobe, das Wohnzimmer.

„Entschuldigung“, begann der Älteste des Trios, ein schlanker Hüne mit Spitzbart und Elvistolle, „aber wir müssen das merkwürdige Verhalten des Herrn wohl erklären.“

„Wer sind denn SIE?“ fragte die Lustig mit einer gewissen akustischen Schärfe.

Der Sprecher verbeugte sich leicht.

„Das hier –“ er wies mit eleganter Handbewegung auf die Frau, eine eher unscheinbare, dabei nicht gänzlich von einer gewissen Apartheit entfernte Brünette – „ist Frau Doktor Krimhild Grimm, Psychiaterin. Daneben Herr Professor Willibrord Aschinger, ebenfalls Psychiater. Und meine Wenigkeit natürlich, gestatten: Ludwig Hirn, ich bin –“

„- Psychiater“, ergänzte die Lustig, und der Psychiater nickte distinguiert.

„Erzählen Sie mir aber bitte nicht, gnädige Frau, Sie hätten mich an meinem Namen identifiziert“, lächelte Hirn, „Der Witz verfolgt mich seit dem Physikum.“

„Und – dieser Herr…“

„… ist unser Patient“, meldete sich nun Aschinger zu Wort, ein mit stechenden Augen begabter, schmalschultriger Mittvierziger.

„… UNSER Patient? Wie darf ich das verstehen? Unterhalten Sie eine Gemeinschaftspraxis?“

„Nein“, flüsterte Frau Dr. Grimm, „dieser Herr, der aus für uns unerfindlichen Gründen den lieben Doktor Barenburg – vor unser aller Augen! – erstach, ist eine multiple Persönlichkeit, also, um es für Laien verständlich zu machen, er ist eigentlich DREI Herren: Bunse, Wirsch und von der Hitzelburg.“

„Ich verstehe trotzdem nicht, was…“

„Das ist doch ganz einfach“, viel Hirn der Kommissarin ins Wort. „Drei Persönlichkeiten – drei Psychiater. Die Kollegin Grimm behandelt jeden Montag die mittelschwere, auf diversen Minderwertigkeitskomplexen beruhende Psychose des Gerd Bunse. Kollege Aschinger ist mittwochs für die Allmachtsphantasien des notorischen Bettnässers und Proletariers Wirsch zuständig und meine Wenigkeit widmet sich an allen Freitagen den inzuchtbedingten hysterischen Anfällen des Ritters von der Hitzelburg.“

„Das heißt…“, folgerte die Lustig und musste kichern, „Sie kassieren dreimal Honorar von EINEM Patienten? – Und das macht die Krankenkasse mit?“

„Natürlich ist der Herr Privatpatient!“ stellte Professor Aschinger mit gereizter Stimme richtig.

„Dann wissen Sie auch, warum Herr Bunse respektive Herr Wirsch respektive Herr äh… Ritter von der Hitzelburg plötzlich mit einem Messer in ihre Teestunde platzt und das Opfer hier absticht?“

Die drei Mediziner schwiegen betroffen und Kommissarin Lustig wandte sich seufzend dem Täter zu.

„Also – wer von Ihnen drei hat warum gemordet? Klare Ansage!“

Bunse-Wirsch-von der Hitzelburg grübelte angestrengt und sichtbar. Dann sprach eine ordinäre, gewaltige Stimme:

„Ich wars! Die Sau musste abgestochen werden! Stand im Weg! Hat man mir gesagt! Jetzt wird alles gut!“

„Er ist unzurechnungsfähig!“ sagte nun das Trio unisono und Hirn fügte hinzu: „Ein bedauerlicher Exzess, völlig grundlos. Der Mann – äh, die Männer gehören in sofortige psychiatrische Behandlung. – Wir stehen selbstverständlich zur Verfügung!“

Wieder schaute die Lustig zufrieden auf ihre Armbanduhr. Es war zwanzig nach sieben. Die drei Psychiater hatten sich unbedreht und standen im Begriff, den Raum zu verlassen.

„Nicht so schnell!“ rief ihnen Madeleine Lustig nach. „Nur zwei verlassen dieses Zimmer als freie Menschen – die dritte Person wird wegen Anstiftung zum Mord festgenommen! Das Motiv wird sich schon noch finden!“

Wer war’s? Und wie ist La Lustig drauf gekommen? Am Montag gibt es die Lösung! Wer errät’s schon vorher? Ruhm und Ehre winken!*

Dale Patrick Rutherford

Auszug aus den Kurz-Rate-Krimi-Spielregeln: „Jeweils zu Weihnachten wird unter allen richtigen Erstratern (TrittbrettfahrerInnen haben keine Chance!) der Gewinner, die Gewinnerin des AMOKLÄUFERS durch Losentscheid ermittelt! Der AMOKLÄUFER ist eine formschön gestaltete Statuette aus vergoldetem Blei, bestens als Corpus Delicti bei Totschlag im Affekt geeignet, auch als Eye-Catcher auf Anrichten oder Couchtischen von prägender Eleganz. Der Gewinner, die Gewinnerin dieses ersten europäischen Preises für Rate-Kurz-Krimis wird von Ratekurzkrimifee Anobella gezogen!“

8 Gedanken zu „Der Mörder mit den drei Gesichtern“

  1. Aaalso, das muss man nach dem Ausschlussverfahren machen. Zuerst identifizieren wir das Motiv: „Du dreckiger polygamer Lump“ lässt in aller gebotener Vorsicht drauf schließen, dass der Ermordete es mit mehreren Frauen getrieben hat, natürlich kämen auch Männer in Frage, aber in diesem kulturellen Kontext sind Frauen wahrscheinlicher. Ich gehe also hievon aus: Das Mordmotiv ist Eifersucht, unter den Gespielinnen des Herrn Dr. Barenberg war wahrscheinlich auch die Angetraute der Herren Aschinger oder Hirn. Wenn wir – hypothetisch – davon ausgehen, dass Frau Dr. Grimm heterosexuell ist, dann scheidet sie als Täterin aus. Hier befinden wir uns allerdings auf dem Boden von Hypothesen, es gälte zunächst, die sexuelle Orientierung der ProtagnistInnen zu klären.

    Im zweiten Schritt erstellen wir ein Täterprofil: Wer hat den guten Barenberg ermordet: Bunse, Hirsch oder von Hitzelburg? Dazu nehmen wir eine syntaktisch-strukturelle Tiefenanalyse der Äußerungen zum Mordzeitpunkt vor: „Jetzt gehört die Weltherrschaft mir, du dreckiger polygamer Lump!“

    Dazu extrahieren wir zunächst die sinntragenden Einheiten: „gehört mir“, „Weltherrschaft“, „dreckiger“, „polygamer“, „Lump“. „Gehört mir“ lässt auf einen anal-retentiven Charakter schließen, für eine gewisse Analität spricht auch „dreckig“. „Weltherrschaft“ weist auf eine narzisstische Überhöhung mit teilweisem Realitätsverlust hin. Das abstrahieren wir dermaßen: Wenn wir „Weltherrschaft“ in Kontext mit den Wörtern „dreckiger, polygamer Lump“ stellen, können wir auf eine kulturellen Hintergrund schließen, der eine tatsächliche Übernahme der „Weltherrschaft“ eher ungewöhnlich erscheinen lässt.* Aus „dreckiger, polygamer Lump“ schließen wir weiters auf ein gewisse Expressivität kaum gebändigter Emotionen, was wiederum im Widerspruch zum anal-retentiven Charakter steht. Aus der Spannung zwischen andrängenden Triebwünschen und rigidem Charakter sind durchaus Symptombildungen zu erwarten, beispielsweise Nägelbeißen, das Kochen von Reisfleisch mit großen Mengen von Ketchup als Symbolisierung von Blut oder Bettnässen. Wir haben es hier also mit einem Täter wahrscheinlich niedriger sozialer Herkunft mit neurotischen Symptombildungen und kompensatorischen Größenideen zu tun. Vergleichen wir dieses Täterprofil mit den in Frage kommenden Persönlichkeiten, kommt nur Herr Wirsch in Frage. Sein Behandler, Kollege Aschinger steht also im dringenden Verdacht, den Täter angestiftet zu haben.

    Das beantwortet jedoch nicht die Frage: Verfügt Herr Bunse/Hirsch/von Hitzelburg über drei Gehirne? Wer von den dreien war zum Zeitpunkt der Tat dispositions- und diskretionsfähig? Ist einer von den Dreien in der Lage, den freien Willen der Anderen zu beeinflussen? Und wenn der freie Wille des einen durch den freien Willen des Anderen manipuliert wird, ist das dann noch freier Wille? Fragen über Fragen.

    * Als Beispiel für Äußerungen von Menschen, die gewöhnlich die Weltherrschaft zu übernehmen trachten, steht in meinem „Wörterbuch der psychiatrischen Idiomologie“: „Diese Steuersenkungen für Leute mit einem Einkommen von über 500000 US-Dollar pro Jahr wird der Wirtschaft und damit uns allen zugute kommen. Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.“

  2. tja, wenn die Frau Lustig das nur auch so auf der Polizeischule gelernt hätte… Hat sie aber nicht. Deshalb ist sie zu einer anderen Entscheidung gekommen. Äh, Frau Lustig, wollen Sie vielleicht einen Kommentar… „Ja, wenns sein muss. Also die Frau Krimi kennt sich sicherlich mit den österreichischen multiplen Persönlichkeiten aus, aber nicht so mit den deutschen. Außerdem hat sie ein bestimmtes Faktum übersehen…Trotzdem merk ich mir das mal mit der Argumentation, denn die der Tat verdächtige Person hat noch immer nicht gestanden. Wenn das bis Montag nichts wird, nehmen wir halt wen anderen.“
    Tja, du hörst es selber. Leider können wir die Antwort nicht als richtig durchgehen lassen…

    bye
    dpr

  3. Das, liebe krimi.krimi ist ein Lehrbeispiel an manipulativer Schreibe. Eben weil Aschinger durch gewisse Wörter verraten wird, kann er es eigentlich nicht sein (was den Autoren natürlich nicht daran hindert, es ihn trotzdem sein zu lassen).

    Wenn wir davon ausgehen, dass die Tatsache, dass der Täter für den Behandler (weibl., männl.) die Tat beging, hat er/sie auf den Täter Einfluss genommen. Dann wäre „Jetzt gehört die Weltherrschaft mir, du dreckiger polygamer Lump!“ ein Hinweis auf eine Überkompensation seitens des Patienten und auf Herr Wirsch. Motiv könnte (siehe „polygam“ und „steht im Weg) Eifersucht sein.

    * Ganz klar natürlich, weil es der Ritter gar nicht sein kann, wird uns dpr am Ende erläutern, warum er es sein musste. Insbesondere wird er darauf hinweisen, dass „polygam“ und „Hysterie“ hier den Weg weisen – Hysterie als Ausdrucksform von gefürchteter, reprimierter usw usf Sexualität.

    ** Montag ? Wir nehmen Dich beim Wort.

  4. Unser erfahrener Ratekurzkrimipapst hat auch diese Story WISSENSCHAFTLICH HIEB- UND STICHFEST aufgebaut. Ihr überseht nur ein sehr beredtes Detail…

    bye
    dpr

  5. Ach was, der Schorsch hat doch von Psychologie keine Ahnung! Es ist nur ein winziges Detail, das man finden muss – und dann konsequent weiterdenken. Sollte diesmal wirklich niemand auf die Nominierungsliste für den AMOKLÄUFER kommen? Schluchz.

    bye
    dpr

  6. „Stand im Weg“ beschäftigt mich über die Gebühr. Aber ich kriegs nicht raus, wer wem wann und warum im Weg steht. Kann sein, dass Herr Baremberg den Lithiumverarbeitern mit seinem psychoanalytischen Ansatz im Weg gestanden ist. Dann wäre am ehesten Frau Grimm die Täterin. Hm.

    *frustriert

  7. Hirn ist der Anstifter. Und selbst eine multiple Persönlichkeit, wie an der Kombi von Spitzbart und Elvistolle eindeutig auszumachen ist.

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