Konträre Zwillinge, eineiige Fremde

Vier Monate 2008. Zeit und Gelegenheit, die gelesenen Bücher zwischen Januar und April noch einmal zu begutachten. Aber nicht Stück für Stück, sondern einzelne Stücke, die nicht zusammen zu gehören scheinen, miteinander in Beziehungen gesetzt. Gegen alle limitierten Ansichten von „Genre“.

Man kann die Schatten von Vergangenheit und Zukunft mit den Mitteln des Irrealen beschwören wie Michael Niemi es in „Der Mann der starb wie ein Lachs“ getan hat – oder mit den Mitteln des nüchternen Hinschauens: Amir Valle tut es in „Freistatt der Schatten“. Beides führt zum gleichen Ergebnis, zur Transzendenz, zum Ineinandergleiten von äußeren und inneren Wirklichkeiten.

Man kann geradeaus erzählen wie Laurence Block in „Verluste“ oder gnadenlos abschweifend wie Thomas Raab, der seinen Helden Metzger zum zweiten Mal durch dessen eigene Gedankenlabyrinthe schickt und rot sehen lässt. Auch hier Verwandtschaften, Überschneidungen, Seitenwechsel: Blocks Straightness lebt von der Abschweifung ins Banale, Raabs Abschweifungen führen geradewegs ins Alltägliche.

Man kann die „Genreregeln“ brechen wie Linus Reichlin in „Die Sehnsucht der Atome“ oder sie akribisch befolgen wie Jeffery Deaver in „Die Menschenleserin“. Bei Reichlin geschieht der Regelverstoß mit Hilfe der Regeln, gegen die verstoßen wird, bei Deaver wird sich so lange an die Regeln gehalten, bis sie obsolet werden.

Man kann einen Kriminalroman als Hörspiel schreiben wie es Gilbert Adair in „Blindband“ beweist. Oder als opulentes, überbordendes, bonbonbuntes Kino wie Matt Ruff, „Bad Monkeys“. Am Ende schaust du doch in die gleichen traumatisierten Köpfe der Protagonisten.

Man kann mit großem Engagement schreiben wie Gisa Klönne („Nacht ohne Schatten“) oder mit eiskaltem Kalkül wie Thea Dorn („Mädchenmörder“): in diese Hose geht beides, wenn die Story lügt.

Man kann eine Geschichte völlig unspektakulär entwickeln wie Thomas Cook in „Das Gift des Zweifels“ oder leichenbepflastert a la Arimasa Osawa in „Rache auf chinesisch“. Einmal wächst eine ganze Welt aus wenigen Details, einmal schrumpft eine ganze Welt auf wenige Details zusammen.

Man kann unter dem Grauen in Mordechai Richlers „Cocksure“ mit sehr viel Witz begraben werden oder sich das Grauen von Frank Göhre in „Mo“ in winzigen Dosen injizieren. Das machtkeinen großen Unterschied, nur den, dass es eben völlig anders ist.

Und so soll es sein: Die Kriminalliteratur verfügt über ein grenzenloses Arsenal von Werkzeugen und Methoden. Sie darf alles machen wie sie will, sogar ihre Spannung neu erfinden. Manchmal muss sie nichts aufklären, manchmal das aufklären, was schon klar zu sein scheint, manchmal darf sie karg sein, manchmal opulent, manchmal bringt sie uns zum Lachen, manchmal fröstelt uns, manchmal werden wir atemlos, manchmal hyperventilieren wir, manchmal ignorieren wir das Rattern von Maschinengewehren, manchmal treibt uns das Verplatzen eines Wassertropfens zum Wahnsinn, manchmal fordern wir Recht, manchmal das Unrecht.

Und vielleicht sollten wir mit jedem neuen Stück Kriminalliteratur, das wir lesen, vergessen, dass es ein Genre gibt.

6 Gedanken zu „Konträre Zwillinge, eineiige Fremde“

  1. Ich trau mich nicht. Da kauft einer was davon, hälts für stinklangweilig und verklagt mich. Na ja, demnächst gibts hier vielleicht eine feste Rubrik mit den aktuellen Favoriten. Die Sachen, die oben empfohlen wurden (also bis auf die Damen Klönne und Dorn), lohnen sich schon. Mein Favorit: Bad Monkeys.

    bye
    dpr

  2. Neben der Frage „Empfehlung für wenn“ ist die zweite entscheidende Frage „Empfehlung für was“. Es reut mich ja nicht unbedingt, ein mittelklassiges Buch gelesen zu haben, wenn ich etwas über die allgemeine Rezeption, Stilistik usw. lernen kann. Über das gleich Buch wäre ich allerdings unglücklich, wenn ich nur gute Unterhaltung suchte.

  3. Stimmt, Bernd. Ich versuche dem mit dem Zusatzservice „Die glorreichen Sieben“ Rechnung zu tragen – was mir natürlich nicht gelingt.

    bye
    dpr

  4. Danke, Herr Zander! Dass Sie als Rentner im Seniorenheim aber auch noch dazu kommen, diesen Blog zu lesen! Hochachtung! Wo Sie doch von den alten Damen nur so umschwärmt werden („Der hat schon 490 Parksünder angezeigt!“)!

    bye
    dpr

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