Eine kurze Studie zur Perspektive, zweiter Teil

Den ersten Teil gibt es →hier)

Warum ein Autor diese und nicht jene Perspektive wählt, um seine Geschichte zu erzählen, das sollte er nicht nur genau wissen, er sollte sich auch über die Konsequenzen im Klaren sein. Sagt jemand „ich“, dann sieht er – und mit ihm der Leser – die Welt mit seinen Augen. Und er redet / denkt in seiner eigenen Sprache.

Es ist also immer ein höchst subjektive Geschichte, die da erzählt wird, und sie wird explizit nicht sklavisch für den Leser erzählt, d.h. dieses Ich darf sich nicht zum Lieferanten von Informationen erniedrigen, um – möglichst in korrektem Deutsch – die Stelle des fehlenden Autor-Ichs gleich mitzubesetzen. Ein Satz wie „Mensch, wer steht denn da an der Bäckerei, die 1885 von Georg Konrad Meyer gegründet wurde und seit zwanzig Jahren auch feine Küchen anbietet?“ wäre somit völlig unglaubwürdig. In einer aus der distanzierten Perspektive des ER mag er noch angehen, obwohl…

Wichtig bleibt, dass die wenigsten Menschen so denken wie sie schreiben. Wohl mag ich einen Autor schelten, der „Er sieht aus wie wenn er gleich sterben würde“ aus SEINER Perspektive formuliert, einem ICH jedoch kann ich dies nicht zum Vorwurf machen. Ganz im Gegenteil.

Aber verlassen wir den Autor und seine Absichten, nicht ohne noch einmal zu betonen, dass er welche haben sollte. Wenden wir uns dem Leser und SEINER Perspektive zu. Die nun ist, wie anders, das ICH, was sich vor allem im Phänomen des Sich-Identifizierens zeigt. Ganz gleich, ob man sich in der Rolle des allwissenden Detektivs, des von Selbstzweifel zernagten Polizisten oder dem hilflosen Opfer wiederfindet – es ist beinahe unmöglich, einen Kriminalroman aus der Distanz zu lesen, als sei man selbst ein Unbeteiligter. Was wohl der Spannung geschuldet ist, die uns emotional berührt und in den Text zieht.

Die Ich-Perspektive des Romans hat es dabei, vor allem, wenn sie strikt subjektiv angelegt ist, naturgemäß schwer, denn hier trifft die Subjektivität der Fiktion auf die Subjektivität des Leser-Ichs. Folgerichtig bietet die distanzierte Perspektive des ER / SIE ob ihrer subjektiven Nicht-Präterminierung generell bequemere Möglichkeiten, sich ein Stellvertreter-Ich im Roman auszusuchen.

Kann ein Autor dies steuern? Nur bedingt. Es kann seine Absicht sein, es dem Leser so schwer wie nur möglich zu machen, in den Sog der Identifikation zu springen. Wir erinnern uns noch an das explizit Dokumentarische der Dragnet / Stahlnetz – Reihe, deren Protagonisten losgelöst von aller Subjektivität zu Ermittlermaschinen geformt waren, geführt von der kalt reportierenden Stimme aus dem Off. Und das andere Extrem: die vollkommene Subjektivität, die den Leser, ob er will oder nicht, an die Figur, die da erzählt, bindet. Er kann dies ablehnen oder annehmen.

Jedenfalls: Das Spiel mit der Erzählperspektive erlaubt dem Autor auf mannigfaltige Weise, seine Leserschaft zu manipulieren. Wenn es mir gelingt, ihn in den Kopf einer höchst unsympathischen Person zu treiben, mit ihm Dinge zu denken, die er ohne die Lektüre niemals denken, gar verstehen würde, habe ich als Autor schon gewonnen. Ich habe den Leser ein wenig aus sich selbst herausgelöst. Dies kann auch gelingen, wenn ich ihn dazu nötige, einfach nur auf Distanz zur Geschichte – und vielleicht auch zur eigenen Subjektivität zu gehen, um sich anzuschauen, welche Szenerarien da in der Geschichte aufgebaut und beschrieben werden. Wie auch immer: Eine Gebrauchsanweisung dafür gibt es nicht, keine Regeln, keine Do’s und Dont’s. Alles liegt in der Kunst des Autors – und dann in der Bereitschaft des Lesers.

dpr

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