Gerald Kersh: Ouvertüre um Mitternacht

Das ist Krimi: Ich mach dir deine schöne Welt kaputt, kitte sie wieder – und am Ende steht sie schöner da denn zuvor. Schicken wir eine alte, exzentrische Lady auf Mördersuche, das wird spannend und lustig. Aber wenn es nicht spannend und lustig wird? Wenn die Welt am Ende keineswegs schöner, nein, hässlicher und kaputter ist als am Anfang? Dann nennt man’s Noir. Also nennen wir Gerald Kershs „Ouvertüre um Mitternacht“ einen Noir.

Die Geschichte spielt Mitte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts in England. Dieses Detail wird noch zentral, obwohl die historische Verortung des Romans zunächst nebensächlich erscheint. Denn es geht um ein konkretes Verbrechen, den Mord an der zehnjährigen Sonia Sabbatani, Tochter eines jüdischen Wäschereibesitzers. In den Kohlenkeller eines Abbruchhauses gelockt, vergewaltigt, erwürgt. Der Fall sorgt für Aufsehen, die Polizei in Gestalt von Detective Inspector Turpin ermittelt. Zeit für den Auftritt von Asta Thundersley. Sie, vermögend und – wie beinahe alle Auftretenden – gut englisch-exzentrisch, vermag sich über alles Unrecht auf dieser Welt zu empören, und dann wird sie gnadenlos. Sie stiefelt krakeelend und vorverurteilend durch die Welt, eine nervende Gutmenschin. Jetzt also der Mord an der kleinen Sonia, Asta Thundersley wird den Täter fangen, hängen soll er.

Irgendwie hat Asta den Verdacht, der Mörder sei im Umfeld der Bacchus-Bar zu suchen. Dort verkehrt allerhand seltsames Volk, die Exzentriker eben, österreichische Emigranten mit merkwürdigen Erfinderideen, Groschenheftautoren, aber auch die benachbarte Geschäftswelt. Und Catchy, everybody’s darling, das für jeden Mann Verständnis hat, sich gerne selbst erniedrigt und erniedrigen lässt.

Nun aber ist Asta Thundersley keine Miss Marple. Ihre deduktive Kraft ist winzig, ihre absonderlichen Einfälle dagegen verblüffen. So kommt sie zu dem Schluss, es sei vorteilhaft, möglichst viele Menschen aus der Bacchus-Bar zu einer privaten Party einzuladen. Der Mörder muss unter ihnen sein, man wird ihn schon erkennen.

Und tatsächlich: Der Mörder ist unter den Gästen, er wird sogar erkannt, wenn auch nicht von Asta. Die ist deprimiert und gibt auf. Vorher aber hat sie eine Erleuchtung und wird jemanden ohrfeigen, und das ist die eigentliche Crux des Romans.

Es gibt zwei fundamentale Gedanken in „Ouvertüre um Mitternacht“. Den ersten äußert Turpin: Der Mörder wurde zum Mörder, weil er an irgend einer anderen Person seine Grausamkeit üben konnte. Diese Person ist mitschuldig an der Tat. Den zweiten hat Mr. Pink, ein absonderlicher Theologe parat. Er wird ihn ein Jahrzehnt nach den Ereignissen (und nach dem Weltkrieg) folgendermaßen formulieren: „Es ist alles dasselbe. Majdanek, Belsen, Auschwitz, Sonia Sabbatani … Der Unterschied ist nur eine Frage der Größenordnung und der Gesetzmäßigkeit.“

Womit wir bei der historischen Dimension wären. Kershs Buch lässt sich beinahe als ein Zwilling des ebenfalls vor kurzem wiederveröffentlichten →„Einzelgänger, männlich“ von Geoffrey Household lesen. Wir lernen ein England kennen, das sich von den Nazis erniedrigen lässt, ein dekadentes Land voller „Exzentriker“ und wohlmeinender Projektemacher, in dem die Moralisten wie Asta Thundersley spektakulär auf die Kacke hauen, im Grunde jedoch hilflos sind, nichts bewirken können. Asta wird das, nachdem sie so erbärmlich gescheitert ist bei ihrer Missmarpelei, erkennen und jene schon angesprochene Ohrfeige austeilen. Helfen wird auch das nichts.

So bleibt „Ouvertüre um Mitternacht“ letztlich ein gespenstisch pessimistisches Werk, Zeichnung einer Welt, die im Kleinen wie im Großen versagt, zeitlos auch, denn die Täter und diejenigen, die sie begünstigen, weil sie nicht handeln, kommen immer ungeschoren davon. Sehr beeindruckend und, ganz am Rande, ein gelungenes Beispiel dafür, wie „das Genre“ mit seinen Regeln angesichts der Wirklichkeit versagen muss. Wer Kersh und Household parallel oder kurz nacheinander liest, hat sogar noch mehr davon.

Gerald Kersh: Ouvertüre um Mitternacht. 
Pulp Master 2009. 270 Seiten. 13,80 €
(Prelude to a Certain Midnight, 1947. Deutsch von Ango Laina und Angelika Müller)

2 Gedanken zu „Gerald Kersh: Ouvertüre um Mitternacht“

  1. Habe das Buch auch gerade gelesen und bin ganz Deiner Meinung. Eine wirkliche Entdeckung für mich. (Muss man sich jetzt „The Night and the City“ kaufen?)

  2. … man kann auf jeden Fall neugierig werden und mal beim Altpapier nach Kersh gucken. Und hoffen, dass Pulp Master uns noch das eine oder andere beschert resp. neu auflegt.

    bye
    dpr

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