Revisited: Deutschland, ein schlechtes Krimimärchen

Hallo Deutschland, wie bist denn du wieder drauf? Taumelst durch dich selbst und stellst dir unerhört sinnhafte Fragen, wie ich in den letzten Tagen leider „den Medien“ entnehmen durfte. Was ist gute Unterhaltung, „Wetten dass“ oder „Dschungelcamp“ („Maybrit Illner“)? Soll man mit Drill oder ohne erziehen („Hart aber fair“). Hat ein Minister „gespickt“ (überall)? Entschuldige, Deutschland, aber das ist ungefähr so wichtig wie das „Wer war’s“, das einen Krimiautor umtreibt, also völlig ohne Belang, aber leider: Es zählt.

Ich habe, Deutschland, schon vor längerer Zeit feststellen müssen, dass es dir einen Heidenspaß bereitet, dich als die Heimat der läppischen Verbrechen zu deklarieren. Ein läppisches Verbrechen? Nun, das ist eines, dessen einzige Existenzberechtigung es selbst ist, frag Raymond Chandler, der wusste das schon. Da hat ein Minister möglicherweise beim Doktorspielen gepfuscht und schon spielst du den Detektiv. Schlagzeile: Ganz Deutschland begibt sich ins Internet, gründet spontane Forschungsgemeinschaften, um Herrn von und zu noch mehr Plagiate nachzuweisen. Und ganz Deutschland grübelt über den Fall einer „chinesischstämmigen Amerikanerin“, die ihre Kinder drangsaliert, was ja ein Verbrechen sein könnte, oder vielleicht doch nur die adäquate Antwort des Westens auf die Expansionsdrang der gelben Horden sein wird. Und erst das! Dürfen Unterhaltungssendungen geschmacklos sein? Ich stelle mir gerade vor, wie sich der Affe, der in die Seife beißt, mit sich selbst darüber streitet.

Das alles interessiert dich über die Maßen, Deutschland, daraus strickst du deine Fälle wie ein miserabler Autor, alle dreißig Seiten eine Untat, damit Deutschland nicht einschläft oder, noch arger, nicht endlich zu denken anfängt, aber dann wäre es ja kein Krimi mehr, sondern Literatur, also die schnöde Realität.

Die nämlich sieht anders aus. Gespickt wird flächendeckend, man braucht dazu nicht ministrabel zu sein. Du lebst vom Abschreiben, vom Wiederholen der immergleichen Denkmuster in nur leicht veränderter Syntax, das schätzt du so an deinen Politikern und Bestsellerautoren. Man piesackt dich mit „Bildung“, deine Humanressourcen werden mit unnützen Fakten aufgeladen, auf dass du leistungsstark und profitabel werdest. Und während du dich über schlechte Unterhaltung mokierst, Deutschland, manipuliert man dich mit sauschlechtem Journalismus und schlapprigem Feuilleton und immer wieder telegener Moral, Moral, Moral, was sehr schön die Unmoral überkleistert, mit der man dir das Geld aus der Tasche zieht und die letzten Regungen eigenen Denkens aus den Hirnzellen wichst.

Das alles wäre schlimm genug, aber es kommt noch schlimmer. Du weißt das nämlich durchaus, Deutschland, du kennst die Verbrechen, die man an dir verübt, allein: Du nimmst sie nicht wahr. Sie sind einfach so grauenvoll alltäglich, da huscht kein Killer durch die Nacht und metzelt urdeutsche Werte, kein Meisterdetektiv faltet dekorativ die Denkerstirn, kein großer Showdown stellt die alte Ordnung wieder her. Diese Verbrechen nämlich lassen sich nicht fassen, da hilft kein Googeln. Sie sind nicht damit aufgeklärt, dass man den Hartz-IV-Regelsatz statt um fünf Euro um acht erhöht, sie sind größer, komplizierter und der Clou dabei: Es sind DEINE Verbrechen, Deutschland. Und jeder Krimiautor hütet sich davor, seine Leser als Täter zu entlarven, das kommt ganz schlecht, wenn man die Sympathieträger zu Mördern macht, und man selbst ist sich halt immer noch am sympathischsten, man spielt aber leider gar nicht mit beim fröhlichen Morden, nicht einmal als Statist. Man ist Verbraucher. Und Opfer. Und Täter. Das wiederholt sich und wiederholt sich und du sitzt auf deinem gepflegten englischen Rasen und wartest darauf, dass dich der Gärtner endlich ermordet, doch bevor Miss Marple ihre Plätzchen gebacken hat und den Fall endlich aufklären kann, bist du schon tot. Hallo Deutschland.

3 Gedanken zu „Revisited: Deutschland, ein schlechtes Krimimärchen“

  1. Oh je! Äh, ja… Ist ja alles „irgendwie“ (halb-)wahr. Und? Was sollen wir jetzt damit? Sollen wir jetzt einen Minister, der gerne die Moral hochhält, nicht mehr an den Ohren ziehn, ohne seine Verfehlung (Beschiss) nicht sofort gesamtgesellschaftlich zu verorten? Was hat dich plötzlich so aufgeregt? Dass wir zu einem erheblichen Teil mit einem Medienmüll zugemümmelt werden, dass immer wieder Unmoral durch moralisches Keulenschwingen verkleistert werden soll, dass in Fernsehtalkshows mehr oft als selten Blödsinn verzapft wird? Das, ich muss gestehen, hat mich jetzt nicht im mindesten überrascht. Und dann wird auch noch die bereits verwurstete Sau durchs Dorf getrieben: da Literatur, sprich Realität, dort Krimi, also systemerhaltender Eskapismus (der letzte Halbsatz ist unfair, da man an anderer Stelle nachlesen kann, dass du es gar nicht mit solchen Plattheiten hast, aber hier könnte man das hineinlesen)

  2. Nein, das Ganze ist viel einfacher, mein Lieber. Ich erlaube mir, mich von Zeit zu Zeit über den großen schlechten Krimi aufzuregen, den man uns pausenlos vorsetzt. Ist natürlich nix Neues, aber ich möchte es halt erwähnen. Und zwischen Literatur / Realität hier und Krimi dort habe ich noch nie unterschieden. Im Gegenteil, hoff ich mal…

    bye
    dpr

  3. Ja, gelegentlich aufregen muss man sich, das ist wohl richtig. Ich hoffe mal, dass Dietmar Schönherr Recht hat, der meinte, es hätte ihn fit gehalten, dass er sich über viele Dinge so richtig aufregen könne.

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