Ein politischer Krimi von 1862

temme.jpg Über die Vorzüge des Kriminalschriftstellers Joducus Donatus Hubertus Temme habe ich hier und anderswo schon genug gesagt. Dass er war, was es nach den Vertretern der Schundtheorie gar nicht geben dürfte, ein politischer Kriminalautor nämlich, erschließt sich schon aus seiner Biografie. Der Jurist Temme, u.a. Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, engagierte sich in der Revolution von 1848/49, wurde mehrfach inhaftiert und seines Richteramts mitsamt der Pensionsberechtigung beraubt, flüchtete schließlich nach Zürich, wo er seine vielköpfige Familie durch das Schreiben von Kriminalromanen und –erzählungen (letztere vor allem für „Die Gartenlaube“) ernährte.

Es war indes mehr als schnöde Brotarbeit, die Temme hier ablieferte (von einigen hastig hingeschriebenen Geschichten abgesehen, die wir ihm gerne verzeihen). In seinem sachlichen, niemals zu dekorativer literarischer Innenarchitektur degradierten Stil entwarf er eine Vision von „Recht“, deren Bedeutung er von der staatlichen bis zur privaten Ebene skizzierte, wobei nicht ausbleiben konnte, dass er die traurige Wirklichkeit mitbeschrieb. Dies geschieht zwar vorwiegend in den Form von „Krimi“, wie er seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufblüht, aber wenigstens einmal auch als „true crime“ in „Der Studentenmord in Zürich“ (1872). Ein Student, ganz offensichtlich Spitzel in Diensten deutscher Fürsten, wird ermordet, Temme recherchiert in den Kreisen der politischen Emigranten und liefert dabei ein facettenreiches Bild dieses Milieus. Es ist eine Dokumentation „nach Aktenlage“, nicht im Stile des Genres dramatisiert, sondern vorsichtig aus den Fakten gezogen und mit juristischer Akkuratesse aufbereitet. So verwundert es nicht, dass am Ende nicht „die Auflösung“ steht, lediglich eine angedeutete Mutmaßung.

Wie politisch brisant solche Arbeiten waren, erkennt man schon daran, dass sich Temme beinahe für den Rest seines Lebens (er starb 1881 in Zürich, in das er nach einem kurzen Intermezzo in Tilsit zurückgekehrt war) den Schikanen der preußischen Zensur ausgesetzt sah. Deren Vorgehen war subtil: „Das Verbot erfolgte an die Leihbibliotheken unter Vermeidung der Öffentlichkeit. Den Inhabern von Leihbibliotheken wurde einfach durch einen Polizeibeamten angesagt, daß sie bei Vermeidung der Entziehung ihrer Konzession die Romane nicht auszuleihen hätten; dieselbe Strafe wurde ihnen angedroht, wenn sie das Verbot weiter mittheilen würden.“

Der Text, den wir etwas genauer unter die Lupe nehmen wollen, ist eine längere Erzählung, die 1862 erstmals in vier Lieferungen in der „Gartenlaube“ erschien. Sie heißt „Der Amnestirte“ und rankt sich um die Ereignisse der „Badischen Revolution“ von 1848/49, als sich hier zwischen Karlsruhe und Bodensee die versprengten Reste des deutschen Aufstandes sammelten, für eine Zeitlang die Macht übernehmen konnten, bevor sie eine Koalition unter preußischer Führung blutig und mit brutalster Gewalt (es kam auch zu Massenexekutionen) zerschlug.

Der Ich-Erzähler, leicht erkennbar nach dem biografischen Vorbild des Autors erschaffen, bereist die Bodenseegegend. Am Kloster des Ortes Diessenhofen, das er in einem Nachen passiert, erzählt ihm der Fährmann die Geschichte eines verwundeten badischen Offiziers, der bei einem Fluchtversuch auf die Schweizer Seite von preußischen Häschern verfolgt wurde und sich nur mit knapper Not und der Hilfe einer jungen Nonne in Sicherheit bringen konnte. Aus der Beschreibung des Fährmanns glaubt der Erzähler einen flüchtigen Zürcher Bekannten zu erkennen, den stillen und zurückhaltenden Alexander Roth, ebenfalls ein Flüchtling und gewesener Offizier. Einmal neugierig geworden, forscht der Erzähler weiter und erfährt die ganze tragische Geschichte des Soldaten und der Nonne. Beide mussten sich von früher her kennen, sie pflegte ihn aufopfernd gesund, sie liebten sich augenscheinlich, doch dann verschwand die Nonne, selbst als „entsprungen“ gesucht, Roth emigrierte in die Schweiz.

Zurück in Zürich, kommt es zu einer Unterredung mit Roth, die weitere Details der Beziehung zu der Nonne preisgibt. Eigentlich von Adel, war Roth auf der Seite der Aufständischen in Bedrängnis geraten und geflohen. Seine Flucht führte ihn zum Schloss eines Bekannten, über den es heißt: „Es war die Wohnung eines Freundes, der zur Partei der entschiedensten, der heftigsten Reaction gehörte. Er war mein erklärtester, erbittertester politischer Widersacher. Aber er war zugleich der stolzeste und der unbeugsamste Charakter, und nie habe ich einen Mann kennen gelernt, der eifersüchtiger auf seine Ehre vor den Menschen, vor der Welt war. Der untadelhafteste Edelmann zu sein, an dessen Namen und Ruf auch nicht das kleinste Fleckchen gehängt werden könne, das war ihm Alles, dafür hätte er sein Leben als ein Nichts hingegeben.“

Doch Roth erscheint zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Die Frau seines Freundes ist gerade verstorben, in seinen Diensten als Gesellschafterin steht auch Ida, die Jugendfreundin des Offiziers. Es beginnt nun eine bösartige Intrige zu Ungunsten der jungen Frau, sie wird verhaftet, doch ihr gelingt die Flucht ins Kloster, wo sich ihre und Roths Wege wieder kreuzen. Hinter der Intrige steckt kein anderer als der so ehrenhafte Edelmann, der auf Ida eigene Schuld abwälzt. Erst nach einer Amnestie 1862 macht sich Roth auf die Suche nach der Geliebten, doch als er sie endlich findet, ist es zu spät. Was ihm einzig verbleibt, ist die Rache an seinem „Freund“.

Diese Erzählung, die sowohl ihrem Aufbau als auch ihrer Sprache nach als Schulungsmaterial für junge AutorInnen taugt, ist gleichzeitig ein Paradestück von „politischem Krimi“, in dem sich ein gesellschaftliches Anliegen nicht unter dem Mäntelchen einer melodramatischen und durchaus auch trivialen Liebesgeschichte verbirgt, um als geheime Botschaft in die Gehirne argloser Spaßleserschaft zu wandern, sondern wo dieses Unterhaltende mit der politischen Essenz untrennbar eins wird, das Private und das Politische sich durchdringen, einander bedingen und vorantreiben. Es geht um Recht und Ehre, beides fragwürdige Begriffe, die Temme mit kaltem Wortskalpell seziert. Sie gelten nur innerhalb des gehobenen Standes, wo das Herkommen selbst über politische Feindschaften hinwegsieht, sie werden obsolet, wenn Vertreter unterer Klassen ins Spiel kommen, wie die Geschichte des zugleich ehrenvollen wie ehrlosen Schlossherrn zeigt. Für ein liberales und demokratisches Recht ist in dieser Welt kein Platz, Schuld und Sühne führen auf morschem rechtlichen Fundament in die Ausweglosigkeit. Am Ende sind es wieder die überkommenen Standesregeln, die für „Gerechtigkeit“ sorgen, es kommt zum Duell.

Zwischen dem Politisch-Analytischen und dem trivialen Melodramatischen fungiert der Mordfall als das entscheidende Scharnier, das die unauflösliche Bindung garantiert. Zum einen Motor der Spannung, zum anderen der Übersetzer des abstrakten Begriffs von „Politik“ in die Sprache des einzelnen Individuums. Die Aufgabe des „Genres“ ist also eine zweifache, es bringt den Text zum Leser und versorgt ihn mit dem erwarteten Zeitvertreib, es schafft aber gleichzeitig auch die notwendige Basis, mehr oder weniger theoretische Informationen in Konkretes zu verwandeln, die Fallhöhe zwischen beiden Ebenen nachzuzeichnen und die innige Korrespondenz, denen das Verhältnis von Politischem und Privatem ausgesetzt ist.

„Ein Amnestirter“ kommt wie eine Blaupause dessen daher, was den gelungenen „politischen Krimi“ in seiner Entwicklung auszeichnen wird. Wir wollen das in der nächsten Folge in einer vergleichenden Analyse mit einem Werk weiter ausführen, das mehr als 100 Jahre nach Temmes Erzählung entstand und heute gemeinhin als ein Höhepunkt der Verbindung von politischem Engagement, ja, Agitation und trivialer Unterhaltung gilt: die Martin-Beck-Romane von Sjöwall / Wahlöö.

„Ein Amnestirter“ ist enthalten in:
J.D.H. Temme: In einer Brautnacht. Criminalerzählungen 1860 ff (= Criminalbibliothek 1850 – 1933, Band III, herausgegeben von Dieter Paul Rudolph). Edition Köln 2009

Informationen zu Temme und Faksimiles einige seiner Werke findet man →hier.

6 Gedanken zu „Ein politischer Krimi von 1862“

  1. interessant, danke, wobei mich noch interessieren würde, ob das ausgewählte Zitat sprachlich repräsentativ ist (was mich von der Lektüre eher abschreckt). Dem Gegensatzpaar Politisch-Analytisch/trivial Melodramatisch kann ich nach wie vor nicht folgen. Politik ist in ihren Auswirkungen melodramatisch, stiftet letztlich große individuelle Gefühle. Somit finde ich es zwingend für einen Roman – und sehe es nicht als einen trivialen Spannungseffekt – dies zu zeigen. Ein bischen dicker und fetter als im richtigen Leben natürlich…
    „die innige Korrespondenz, denen das Verhältnis von Politischem und Privatem ausgesetzt ist.“ Ich würde sagen, sie korrespondieren nicht nur, sondern gehen auseinander hervor.

  2. Temme ist ein Meister der sprachlichen Lakonik, obwohl der Text ziemlich pathetisch beginnt, was abe wirklich nicht abschrecken sollte. Zu allem anderen mehr in der nächsten Folge…

  3. „Dem Gegensatzpaar Politisch-Analytisch/trivial Melodramatisch kann ich nach wie vor nicht folgen.“ – Yes, ich auch nicht, und ich halte das für einen historischen Fehler, der – ähnlich wie die Trennung von Privatem und Politischem – kulturell Herrschaft reproduzieren hilft. Gern würde ich das Politische aus der Codierung befreien, die Distanz suggeriert – es geht dabei in Wahrheit um unser Leben, trivial, banal, wirklich. Was Krimis zumindest nicht leugnen. Und Temme klingt faszinierend.

  4. auch wenn es nicht immer gelingt — in der ’sprachlichen Lakonik‘ würde ich das Politische suchen. Da wird die juristische Gewißheit suggeriert, die in vielen Texten Temmes dann nicht zu haben ist. Mit diesem Gedanken im Kopf müsssen Sie nur einmal den StA-Sprecherinnen zuhören, die in der Tagesschau Festnahmen oder Anklagen oder Urteilserwartungen verkünden. (Ich denke an die Oberstaatsanwältin Stockinger, die in München die Presse bedient, ohne je den Gedanken an Fallibilität aufkommen zu lassen.)

    Schöne Feiertage!

  5. Ich stimme Ihnen zu, lieber Herr Linder, wobei Temmes Sprache natürlich aus ästhetischer Sicht immer auch eine Provokation der sogenannten „literarischen Sprache“ sein muss, die sich auf das Herzeigen ihrer schmückenden Girlanden konzentriert.

  6. ich bin, was die Girlanden angeht, im Zwiespalt: Sie hatten Distanzierungs- und Ironisierungseffekte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in Verruf kamen (insofern hätte Gartenlaube-Temme eben auch eine Menge mit Freytag u. sgl. zu tun. Nix ist eben umsonst zu haben).

    Beste Grüße!

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