Simon Beckett: Verwesung

beckett_verwesung.jpg (Jochen König, VIce Senior Editor-in-Chief & Master of the Breakfasttable der Krimicouch, liest Simon Beckett und nimmt damit den LeserInnen die Arbeit ab. Ein menschenfreundlicher Service von wtd)
Simon Beckett ist ein Phänomen. Während seine frühen Romane – auch von seinen Fans – eher verhalten aufgenommen werden, werden die Fortsetzungen der Reihe um den forensischen Anthropologen David Hunter sehnsüchtig erwartet. Ein wenig erstaunt der Erfolg schon, denn die Geschichten, die Beckett erzählt, sind nicht besonders originell, bzw. im Falle von „Leichenblässe“ ein bloßes, jammervolles Wühlen in Eingeweiden, das in einer geschmacklosen Wanderung durch Leichenberge endet. Irgendwo dazwischen ein gesichtsloser Psychopath, ausgestattet natürlich mit dem gängigen hervorragenden Intellekt und dem überstrapazierten Zufall zunächst auf seiner Seite, bevor der Deus Ex Machina sich gegen ihn wendet.

Becketts Personal setzt sich zusammen aus den üblichen Verdächtigen der Kriminalliteratur und –filme der letzten anderthalb Jahrhunderte. Da finden sich starrköpfige, bigotte Pfarrer und gemütliche Dorfpolizisten, ebenso wie – völlig ironiefrei – hochverdächtige Gärtner; Beerdigungsunternehmer, die bei Roger Corman in die Lehre gegangen sein könnten, und die gängigen Snobs, angesiedelt gerne in Hunters Arbeitsumfeld, damit sie dem rührigen Forensiker mit wenig kollegialer Arroganz ihre Herablassung bezeugen können. Was ihnen im jeweiligen Buch nicht gut bekommt.
Und David Hunter selbst: alles andere als ein strahlender Held; steht er doch beständig unter Leidensdruck. Zum einen weil Frau und Tochter Opfer eines tödlichen Autounfalls wurden, zum anderen weil ihm in „Kalte Asche“ selbst übel mitgespielt wurde. Was er dem geneigten Leser in „Leichenblässe“ wieder und wieder vor Augen hält, bzw. plärrt. Es wird zwar behauptet, er sei ein anerkannter Fachmann auf seinem Gebiet, aber so richtig belegen lässt sich dies anhand seiner Abenteuer nicht. Wichtiger ist sowieso, dass Hunter äußerst talentiert darin ist, immer dort in der Welt aufzutauchen, wo gerade gar schröckliche Verbrechen verübt werden.
Sein Autor lässt ihn auch gerne mal im Stich, wobei besonders „Chemie des Todes“ durch nachlässige Recherche unangenehm auffällt. Wer mit Diabetikern umspringt wie Beckett während des ersten Hunter-Auftritts, der könnte Gefahr laufen, vom Retter zum Sterbehelfer zu mutieren.
Egal, denn Hunters Haupteigenschaft besteht darin, erst einmal wenig zu begreifen (sein Lieblingssatz, in unterschiedlichen Varianten in jedem Roman zu finden, lautet deshalb auch: „Ich hatte das Gefühl etwas Wichtiges übersehen zu haben“), im letzten Drittel des Romans irgendwie auf den bösen Drahtzieher zu stoßen und in tödliche Gefahr zu geraten. Er kommt allerdings nicht darin um, obwohl es ihm an Schlagfertigkeit jeder Art mangelt. Aber vielleicht ist genau dies einer der Faktoren seines Erfolgs: David Hunter weckt Mitleid und elterliche Gefühle. Das hat Beckett raus. Ebenso das Gespür, die Lust am morbiden Zuschauen mit dem altehrwürdigen „murder at the vicarage“ zu verbinden. CSI-Geplänkel in Feld, Wald, Wiese, Moor. Hunters Fähigkeiten als Forensiker haben kaum Einfluss auf Ermittlungen und Plot. Bei seinem aktuellen Auftritt weniger als je zuvor.
Was man auch positiv sehen kann: was explizite forensische Fingerübungen angeht, ist „Verwesung“ das bislang zurückhaltendste Buch Becketts. Hier gewinnt der heimelige Cozy mit Gothic-Touch, der sich in unheilschwangeren Stimmungsbildern gemütlich ausmehrt, über weite Strecken die Oberhand. Am Anfang darf Hunter zwar helfen, eine skelettierte Leiche auszugraben und ein paar Binsenweisheiten äußern, die prompt vom ehrgeizigen und neidischen Kollegen, dem forensischen Archäologen Leonard Wainwright, als die eigenen zum besten gegeben werden. Worauf der redliche David alles andere als amused ist. Aber das war’s auch schon. Im Prinzip könnte Hunter auch biederer Angehöriger der Friseurinnung sein, der zufällig in die Untaten des frauenmordenden Jerome Monk verwickelt wird. Monk, der während der Rückblende zu Beginn des Romans im Gefängnis sitzt, bricht nach acht Jahren Haft aus. Umgehend bringt er die Menschen aus Hunters Umfeld, die an der damaligen Suche nach den Gräbern seiner Opfer beteiligt waren, in die Bredouille. Dass sein Herumstreifen durch’s neblige Dartmoor nicht nur für Spannung sorgt („O schaurig ist’s übers Moor zu gehn“ wusste Annette von Droste-Hülshoff schon lange vor „Verwesung“), sondern einige Überraschungen für fast sämtliche Beteiligten bereithält, dürfte dem gewieften Simon Beckett-Leser von Beginn an klar sein.
Beckett hat das sogenannte „Winthropping“ für sich und seinen Roman entdeckt. „Das ist eine Technik, die in den 1970er Jahren entwickelt wurde, um Waffenverstecke zu finden. […] Winthropping ist eine Möglichkeit, eine Landschaft zu lesen, um die Stellen zu finden, wo man mit größter Wahrscheinlichkeit etwas verstecken kann.“ Nun denn.
Flugs wird eine Krimihandlung drum herum gestrickt, während der das Personal erst auf lustige Gräbersuche geschickt wird, bevor man sich auf eine wilde Hatz durch‘s schlüpfrige Moor mit angeschlossener Minenerkundung begibt. Da stolpert es sich ganz ordentlich und Beulen bleiben nicht aus. Was sowohl die körperliche Beschaffenheit wie die Beziehungen der Protagonisten untereinander angeht.
Fast muss man Beckett dafür bewundern wie wenig ihn Plausibilität und Realitätsbezug interessieren. Mehrfach wird darauf hingewiesen was für ein übermenschlich starker und perfider Zeitgenosse der monströse Jerome Monk ist. Trotzdem nimmt ihm die unbewaffnete(!) Polizeieskorte, nach Protesten eines windigen Anwalts, die Handschellen(!!) ab, damit der arme Kerl, der Dartmoor wie seine Westen- und Ostentasche kennt, nicht strauchelt(!!!). Wen wundert es, das kurz darauf fideles Polizistenkegeln angesagt ist, während sich David Hunter und seine liebliche Kollegin Sophie Keller fast ins Höschen machen?
Überhaupt Jerome Monk. Eine bemitleidenswerte, geburtszangengeschädigte Mischung aus Baron Frankensteins Geschöpf und Quasimodo. Möglicherweise aber auch, und das würde einiges erklären, eine Hommage an Ady Berber, jenen chargierenden, augenrollende Ex-Ringer, der in den Edgar Wallace-Verfilmungen gerne die tumbe, schamlos ausgebeutete Hilfskraft teuflischer Geister war.
Beckett gelingt es tatsächlich, Sympathie für den missgestalteten Monk zu wecken. Doch bevor es allzu sehr in die Tiefe reicht, geht es weiter im standardisierten Spannungstrott: Nebliges Moor, plötzliche Todesfälle, schöne Frauen, aufrechte Männer, tragische Gestalten und fiese Verräter. Nur Eddi Arent fehlt. Aber die Abwesenheit eines zündenden Fünkchen Humors ist eh eines der Kennzeichen der Romane Simon Becketts. Es sei denn, man betrachtet die gesamten Konstrukte als ironisches Spiel mit aufgewärmten Mustern.
Aber es spricht beileibe nicht nur Edgar Wallace aus dem Off, ein anderer Geist meldet ebenfalls alte Rechte an: „Verwesung“ ist eine modische Variante von Arthur Conan Doyles „Der Hund der Baskervilles“. Der Hund wird zwar durch Jerome Monk ersetzt, und Sherlock Holmes fehlt. Aber Dr. Watson, äh Hunter, ist da und das nebelverhangene Moor auch. Für die Tierfraktion muss ein toter Dachs reichen.
So wird einiges an Aufwand getrieben, falsche Fährten gelegt, kleine Rätsel gelöst, ein wenig im Dunkeln getappt, über Töpfern und Beziehungsprobleme geplaudert und gelegentlich balgt man sich herum, damit die Spannung nicht ganz in den Keller geht. Tote gibt es zwar auch zu beklagen, doch dies eher am Rande. Am Ende hat Dr. David Hunter gelernt, dass man sich in Menschen ganz schön täuschen kann, ist ein bisschen betrübt darüber und macht weiter.
Das ist in etwa so aufregend wie Torfstechen bei trübem Wetter, bloß nicht ganz so anspruchsvoll. Immerhin weiß der geneigte Leser am Ende, dass er sich fixe Referenzpunkte suchen sollte, wenn er in seinem Garten oder Drumherum etwas verstecken möchte. Keine verlorenen Eier mehr beim nächsten sonnigen Osterfest. Das ist doch schön.
Weniger schön ist, dass „Die Welt“ konstatiert: „Simon Beckett hat auf dem Thron des Krimikönigs Platz genommen“. Ich habe zwar keine Ahnung, wo genau sein Königreich zu verorten sein soll, eins weiß ich aber: Leben möchte ich dort nicht.

Simon Beckett: Verwesung. 
Wunderlich 2011 448 Seiten. 22,95 €
(Calling of the Grave. 2010. Deutsch von Andree Hesse).

5 Gedanken zu „Simon Beckett: Verwesung“

  1. Danke, Jochen. Ich dachte, es läge an mir, dass ich ihn vielleicht nicht kapiere, dass ich zu oft zu sehr grübele.

    Wohl doch nicht.

    Selbst der Autorenname ist der grossen Literatur entlehnt.

    Allerdings: ich bin bei der abendlichen Lektüre regelmässig prima eingeschlafen. Was für einen alten Knacker nicht alltäglich ist.

  2. Da sträuben sich einem die Nasenhaare. Beckett ist, so scheints, der Paolini der Krimiliteratur. Wenn man das so liest und Kollege Jochen glaubhaft ist (gewagte These), wurde bei diesem schaurigen Machwerk wohl alles zusammengeklaut was nicht niet und nagelfest war. Die Granger-Fans freuts. (Wobei ich die selbst gerne lese, aber das ist nicht der Punkt. Und ich kann dann beim Kekse essen besser abschalten.)

    Ansonsten bleibt nur zu sagen: Habe mich königlich amüsiert, Herr König. Sie hätten sich allerdings auch gern kürzer fassen können. Beispiel gefällig:

    Simons Becketts „Verwesung“ = Schrott

  3. Kürzer fassen Herr H., beim Krimikönig? Ging wahrlich nicht, aber falls es dir aufgefallen ist, habe ich nicht nur „Verwesung“, sondern auch seinen restlichen Büchern die letzte Ehre erwiesen. Dafür habe ich es doch sogar verdammt kurz gehalten.
    Und das mit dem „Schrott“ hatte ich doch schon bei dieser anderen Autorin, die mich mehr noch als Simon Beckett verstummt, äh, verstimmt.

    Lieber Peter, das einzige, was mir bei Becketts Lektüre Gedanken macht, ist tasächlich die Frage: Ist der Hunter-Komplex eine großangelegte Satire, und ich erkenne es nicht?

  4. Sehr schön, Herr Kritiker-König!

    Sie schrieben mir aus dem Herzen.

    So eine Generalabrechnung mit Becketts unsäglichen Elaboraten war schon überfällig.

    Becketts Mega-Erfolg ist mir eins der größten Rätsel der Kriminalliteratur der letzten vier Jahre.

  5. Ach Herr König,

    ich bin nun so froh!
    Allein durch das Lesen dieser Rezension, habe ich mich mit mir selbst versöhnt, und trauere nicht länger der durch die Lektüre der ersten beiden Bücher verlorenen Zeit nach.Danke! 😉
    Schade ist allerdings, dass sie nicht auf der Krimicouch zu finden ist…

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