Jim Nisbet: Tödliche Injektion

nisbet_injektion.jpg Es gibt keinen Grund, „Tödliche Injektion“ zu lesen. Gegen die Todesstrafe sind wir sowieso, über das schwere Leben in Fixerkreisen ausreichend informiert. Auch Ehekrisen und üble Gesellen, die älteren Frauen das Gesicht wegblasen, kennen wir aus der Kriminalliteratur zur Genüge. Ok, das Cover ist gewohnte Pulpmaster-Klasse und die Sache mit der Kakerlake, der man den Rücken lackiert hat… oder Colleen, deren mit Kratern übersätes Gesicht es schafft, dass wir an Hässlichkeit und Schönheit zugleich denken… aber sind das wirklich gute Gründe, sich einen „Noir“ reinzuziehen, also ein Stück Krimikuchen, das weder süß noch sahnig noch angenehm im Abgang ist? Nö. Es gibt nur einen einzigen Grund, der allerdings alle Nichtgründe überwiegt: Jim Nisbet hat das Buch geschrieben.

Alles beginnt in einer Todeszelle. Bobby Mencken, schwarz, sieht seinem letzten Gang entgegen. Er soll bei einem Ladenüberfall die Verkäuferin erschossen haben, da kannte die Jury keine Gnade. Der Gefängnisarzt Franklin Royce wartet schon mit der Giftspritze, die Sache verzögert sich aber noch ein Weilchen, denn Mencken denkt nicht daran, so einfach die Kurve zu kratzen. Aber dann ist es soweit, das Gift strömt durch seine Adern, im letzten Moment flüstert der Delinquent seinem Henker ins Ohr, er habe die Tat nicht begangen. Royce fährt nach Hause, streitet sich fürchterlich mit seiner hysterischen Ehefrau, denkt an sein verpfuschtes Leben, seinen fortwährenden Alkoholmissbrauch – und entschließt sich, dem Fall Mencken auf den Grund zu gehen. Er verlässt sein Haus, reist nach Dallas, sucht und findet Colleen, die heroinsüchtige Schönheit mit dem zerstörten Gesicht, Menckens Ex-Freundin – und spätestens jetzt beginnt Royce’ Reise zur Hölle.

Dabei hätten wir spätestens auf Seite 64, als Mencken endlich tot ist und Royce das Zuchthaus verlässt, das Buch zuklappen und ins Regal schieben können. Die lausigen 12 Euro 80 für die Anschaffung sind zu diesem Zeitpunkt nämlich längst drin. Das ist eben mehr als knackiges Grillen von Menschenfleisch, mehr als ein „Dokument gegen die Todesstrafe“, mehr sogar als „gute Literatur“. Wie Nisbet hier zwischen den Gehirnen der Beteiligten hin und her assoziiert, zwischen Wut und Angst, Verkniffenheit und dem letzten Aufbäumen, das markiert schon eine Klasse für sich. Aber klar, wir lesen weiter und folgen Royce auf seinem Weg zu seiner endgültigen Bestimmung.

Nisbets Helden sind notorische Grübler, die mit offenen Augen aus der geordneten Normalität ihres Alltags in die Verderbnis des Verbrechens fahren, wobei „fahren“ wörtlich zu nehmen ist (man vergleiche den biederen Banajhee Rolf in →„Dunkler Gefährte“). Auch Royce verlässt sein Leben vordergründig, um hinter das Geheimnis des möglicherweise zu Unrecht verurteilten Mencken zu kommen – was ihm auch sehr schnell gelingt, doch eigentlich tut er es, um selbst schuldig zu werden, sich selbst für die Sinnlosigkeit seiner bisherigen Existenz zu bestrafen. Er versinkt in Sex and Crime, der Untergang wird zur lustvollen Angelegenheit, eine Mischung aus Ekstase, Angst und Drogen.

Wie Nisbet das inszeniert, ist großartig. Alles hängt hier von der Glaubwürdigkeit des Unglaublichen ab, von der Beschreibung einer Situation, die kein Leser in diesem Extrem kennen dürfte. Das Personal reagiert abgedreht, radikal, Menschen, die ihr eigenes verqueres Universum wie eine Luftblase um sich herum tragen. Und dennoch: Diese Erkenntnis verwandelt Nisbet in das Selbstverständliche. „Tödliche Injektion“ wird somit letztlich zu einem Roman über das ganz persönliche und unspektakuläre Scheitern, die Schaulust des Noir-Lesers wird im günstigsten Fall zur Selbstbetrachtung. Ein kleiner Diamant unter all dem Talmi der Großspurigkeit, von Angelika Müller auch noch prima übersetzt.

dpr

Jim Nisbet: Tödliche Injektion. 
Pulp Master 2011. 232 Seiten. 12,80 €
(Lethal Injection. 2009. Deutsch von Angelika Müller)

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