Was ist Krimi? Zettelwirtschaft 1

Man verzettelt so vor sich hin. Zettel für Zettel auf Facebook, ab jetzt auch gebündelt im Blog. Voilà, der erste Packen Notizen, Gedächtnisstützen für den Autor, Korsett des Anfangs.

Zettel 1: Am Anfang steht nicht der Inhalt, sondern die Form. Aus „Verbrechensliteratur“ wird „Spannungsliteratur“, ein Reflex auf den sich konstituierenden Markt, der seinerseits ein Reflex auf die gesellschaftlichen Bedingungen ist. Es beginnt mit MORAL und endet mit KREUZWORTRÄTSEL. Spannend, diese Entwicklung an ausgewählten, aber nicht willkürlichen Beispielen nachzuvollziehen

Zettel 2: Erstes Kapitel: Wie der Krimi die Verwerfungen und dialektischen Labyrinthe des 19. Jahrhunderts widerspiegelt und erträglich macht. →Referenztext

Gleich also ein harter Brocken. Das Bild im Kopf: Poes Auguste Dupin liest die Zeitung und verwandelt die Illusion eines Mediums in die Illusion eines anderen Mediums

Zettel 3: Die historische Linie der Entwicklung von Krimi als Inszenierungen eines Krimis. Das Heute als eine Kakophonie von NOIRs, die auf verschiedenen Bühnen zur gleichen Zeit inszeniert werden, eigenen Gesetzen folgen und doch einander bedingen, beeinflussen etc., nach einer Synchronisation schreien (Wie lösen wir die Eurokrise, wie bändigen wir das Bankenwesen, wie reagieren wir auf die Riots und Proteste?), nach dem ewigen und tröstlichen Gut und Böse, dem allmächtigen Sherlock Holmes. Glanz und Elend von Kriminalliteratur eben: Trivialisierung bedeutet Beherrschung, indem man die Ängste der Deduktionsmaschine überantwortet. Heute haben wir eine Reihe von WHODUNITs (wer ist schuld?), die immer auf uns selbst als Täter zurückweisen. Rückgriff auf die Anfänge. →Dieser Text von 2007 müsste eingebunden werden, siehe Poe und sein 19. Jahrhundert, siehe Gut und Böse.

Zettel 4: Ein Text über Kriminalliteratur ist eine Bildergalerie. Das erste: Dupin sitzt in seinem Zimmer und liest die Zeitungen, die über den Mord an Marie Roget berichten. Das zweite, passend zum heutigen Datum: Ein Flugzeug knallt in einen Turm, riesiger Feuerball, Ahs und Ohs aus dem Off. Die Erfindung des Krimis als Gedankenspiel und die Erfindung der Wirklichkeit aus dem Gedankenspiel Krimi heraus. Etwas wird vollendet, indem es in seinen Ursprung zurückläuft.

Es ist unsinnig, zwischen Wirklichkeit und Literatur unterscheiden zu wollen. Beide werden erschaffen und formuliert, gelesen und ausgelegt. Eine nicht wahrgenommene Wirklichkeit existiert ebenso wenig wie ein ungelesenes Buch. Der 11.09.2001 ist ein Kriminalroman, den man seit Jahren rezensiert. Poes „Marie Roget“ eine Wirklichkeit, die von A. Dupin erschaffen wurde, indem er las.

Es geht um SINN als mathematische Größe. Berechenbar, formelhaft. Krimi ist Mathematik, Mathematik ist der verzweifelte Versuch, eine Geisteswissenschaft zu einer Naturwissenschaft zu machen. Nur weil PI = 3,14 ist, steckt dahinter kein Naturgesetz, sondern PI ist die Konstante eines künstlichen (Geistes-) Modells namens perfekter Kreis, wie ihn die Natur nicht hervorbringt und wenn doch, dann als Ausnahme von der Regel.

Das ist alles verflucht theoretisch und wird mir die Hälfte der eh schon spärlichen Leserschaft vergraulen. Mit konkreten Beispielen füttern, so dass jeder sofort merkt: Der Typ schreibt hier tatsächlich über Krimis und kehrt nicht nur sein Gehirn aus (macht er doch, aber das Schreiben über Krimis ist wie das Schreiben von Krimis. Mathematik. Aus der Geistes- soll eine Naturwissenschaft werden).

Was lese ich gerade? Sandro Veronesis „XY“, einen „Kriminalroman“ (ich liebe Gänsefüßchen), in dem das Verbrechen sich so völlig der Deduktion entzieht (also im Sinne des Krimis sinnlos wird), dass es sofort einen Sinn bekommt. Hier schließt sich ein Kreis. Dupin liest Veronesi (erstes Bild, vorläufig formulieren, erster Satz, vielleicht: „Mit Poe beginnt die Kriminalliteratur, mit Veronesi könnte sie enden.“)

Zettel 5: Mit Edgar Poe beginnt die Kriminalliteratur und mit Sandro Veronesi könnte sie enden. Beide Behauptungen sind falsch, aber die am wenigsten falschen, wenn wir die Arme ausbreiten, um „Krimi“ zu fassen, ohne ihn zu erdrücken oder ins Leere zu greifen. Mit Poe beginnt das Spiel, weil er ein Objekt findet, mit dem zu spielen sich lohnt: seinen kombinatorischen Verstand. Veronese macht das Spielzeug kaputt, aber das Spiel geht weiter.
…. Jetzt muss →„Marie Roget“ ins äh Spiel gebracht werden:

Zettel 6: Die Individualisierung des Mordes und seine Anonymisierung. Großes Thema, krimirelevant in jeder Beziehung. Vielleicht DIE Wasserscheide der Zukunft. Bei den Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag von NineEleven werden die Namen der ca. 3000 Ermordeten verlesen. Wer verliest die Namen der Ermordeten am, sagen wir, 11.9.1972 bei einem gewöhnlichen Flächenbombardement in Vietnam?

Zettel 7: Wie alle Literatur ist auch der Krimi in jeder Hinsicht ambivalent. Ein Trost- und Empörungsmittel, Beruhigungs- und Aufputschtablette, Hammer und Amboss. Wo aber alles alles sein kann, hebt sich alles auf und nichts ändert sich. Über den Krimi als manisch-depressive Kunst in der Zwangsjacke der Gewohnheit (Tippfehler eben: „Aufputz“ statt „Aufputsch“, passt auch).

Zettel 8: Steht „Krimi“ für „Fortschritt“? Sind alle Verstöße gegen die Regeln von „Krimi“ Indizien für die Abkehr von der Fortschrittsgläubigkeit? Zu einfach. „Fortschritt“ ist ein dialektisches Minenfeld. Fortschreiten, erkunden, ermitteln, bewältigen. Einerseits. Aus einem dunklen Wald flüchten: andererseits. Da „Fortschritt“ „endlos“ impliziert, steht am Ende des herkömmlichen Krimis Stillstand.

Off-topic-Zettel: FDP wieder bei 5%. Plump-durchsichtige Kampagnien finden also weiterhin ihre bereitwilligen Schafe wie – topic on – plump-durchsichtige Krimis. Sich winterabends auf dem Sofa lümmeln, Grog trinken und an verstümmelten Leichnamen delektieren, dem nächsten „Krimidinner“ entgegenfiebern. Entzivilisierter Candlelight-Sadismus. Wer sich mit „Krimi“ auseinandersetzt, kriecht in die banalsten Abgründe der Menschheit. Rösler goes Rögiokrimi.

Zettel 9: Vage Idee für eine Gliederung. Jedem Kapitel eine Bildbeschreibung voranstellen, den jeweiligen Zustand von „Krimi“ mit einem Gemälde / einer Kunstrichtung erfassen. Dass mit Turner begonnen werden muss: einleuchtend. Dass irgendwann – und zwar dominierend! – auch der röhrende Hirsch / die glutäugige Spanierin / der stigmatisiert grinsende Jesus in viel Öl und Kitsch auftaucht: versteht sich. Dazwischen viele Möglichkeiten. Als „Krimi“ so wie eine Zeichnung von Hartfield oder Grosz, oder nüchtern realistisch oder kubistisch oder abstrakt oder knallbunte Popart. Problem: So gut kenne ich mich in der Kunstgeschichte auch wieder nicht aus.

Zettel 10: Lesen heißt Sinnstiftung. Krimi ist Sinnstiftung (sammeln / ordnen / bewerten). Einen Krimi lesen: Sich selber Sinn stiften, indem man anderen beim Sinnstiften zuschaut. Stichworte: Lesemodelle (wir lesen nicht nur Bücher, sondern auch in Gesichtern, Gesten, Abläufen), frühkindliche Weltaneignung, der Krimi als ritualisierte Wiederholung dieser Ur-Sinnstiftung

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