Frl. Katjas Nähkästchen, Folge 24

Natürlich war ich wählen. Herrjeh, ich bin politisiert, seit ich denken kann. Ich hab schon mit vier gefragt, warum der „SPIEGEL“ „SPIEGEL“ heisst. Worauf meine Mutter weise antwortete, „Weil man da drin sehen kann, was gerade passiert.“ Kanzlerkandidaten auf Skat-Karten? Für mich nichts Besonderes. Ich war Spiegel-Titelseiten gewöhnt. Von Anfang an.

Außerdem erinnere ich mich noch gut an das blaue Faltblatt der örtlichen SPD, das mir meine Eltern als Gutenachtgeschichte vorlesen mussten. Kein Scherz! Es war so eine Art blaues Heftchen (damals trug die SPD schon blau!) zum Auseinanderfalten, und es waren jede Menge Fotos drin. Fotos von Kandidaten. Mein Vater war einer von ihnen. Okay… Und nebendran stand, wer er ist. Wie alt. Welcher Beruf. Wieviel Kinder. Bla Bla. Und das mussten mir meine Eltern abends vorlesen.

Als mich mein Vater mit drei mal aus einem Brunnen fischen musste, in den mich ein unbekannter Junge geschubst hatte, trug er mich anschließend in eine Wolldecke gehüllt durchs Treppenhaus, und damit ich nicht allzu sehr weinte, hatte er mir diesen blauen SPD-Flyer in die Hand gedrückt. Das muss schon zu der Zeit gewesen sein, als ich die meisten dieser Dinger verschlissen hatte. Und so war es ein sehr geschickter Kunstgriff, plötzlich doch noch eins von irgendwo herzuzaubern. Das lindert sogar den Schreck nach gerade erlebten Todesgefahren. Denn ich war komplett unter Wasser. Und konnte nicht schwimmen. War ja erst drei.

Ihr meint, das sei schon das Schrägste an frühkindlicher Politisierung? Oh nein. An der Tür meines Kinderzimmers klebten so um die Wendezeit zwei Politiker-Aufkleber. Hans-Jochen Vogel. Und Klaus Kübler. Ihr kennt Dr. Klaus Kübler nicht? Den früheren MdB? Ha! Das war der SPD-Abgeordnete unseres Wahlkreises. Bergstrasse oder so. Ganz ernstblickender Mann mit viel Bart und grauen Haaren. Zu grau eigentlich für die SPD. Aber definitiv zu viel Bart für die CDU. Hab ihn auch mal live gesehen, an irgendnem Info-Stand, zu dem mich mein Vater mal mitgenommen hat. War schon ´n eigenartiges Erlebnis, weil der Mann doch irgendwie anders aussah als an meiner Tür. Nicht schlechter, aber anders. Damals ahnte ich, dass man Fotos bearbeiten kann. Bearbeiten muss.

Aber der eigentliche Witz ist, dass ich mich durch diese Aufkleber beschützt fühlte. Ja, es ist peinlich, aber wenn ich abends mal allein zuhause war, hielt ich mich bevorzugt in der Nähe meiner Tür auf. Die Fotos immer in Sichtweite. Wo Dr. Klaus Kübler vom Sticker guckt, kann mir doch nichts passieren! Oder?! Und ein Kanzlerkandidat mit hohen Haaren und dicker Brille konnte da auch nur nützlich sein. Dachte ich.

Hat lange gedauert, bis ich von meiner Vogel-Sympathie wieder runterkam. Weil: einmal mit zehn ´n Aufkleber an der Tür – das heisst, verseucht für alle Zeiten. Noch heute merke ich reflexartig, wenn ich HJ Vogel im Fernsehen sehe, wie mir das Herz aufgeht. Hach, alte Zeiten, Jugend, Uterus… Aber dann fällt mir wieder ein, dass ich schon von Leuten, die mit ihm zusammenarbeiten mussten, ganz üble Dinge gehört hab. Soll ziemlich autoritär gewesen sein. Ungeduldig und misslaunig. Und dann geht mein Herz wieder zu. Seit die Haare von Hans-Jochen Vogel nicht mehr so hoch sind, sogar noch schneller. Weil: jetzt fehlt der optische Schlüsselreiz, der mein Herz bewegt, bevor mein Hirn anfangen kann zu denken. Mein Herz ist schneller als mein Verstand. Aber nicht „stärker“, wie Claudia Jung singt, während Richard Clayderman dazu auf dem Klavier klimpert.

„Wie? Claudia Jung hat ein Lied über dein Herz und deinen Verstand gesungen, Frl. Katja?“ höre ich meine Leser jetzt fragen. Nein, natürlich nicht. Vielleicht hat sie über ihr eigenes Herz und Hirn gesungen. Oder über das von Richard Clayderman. Vielleicht hatte auch einfach der Texter noch eine Rechnung mit jemandem offen. Mit seinem Ex-Freund vielleicht. Oder auch mit seiner Frau. Who knows.

Womit ich beim eigentlichen Thema bin. Lange schon schwebt mir vor, mal ein paar Zeilen dem Stichwort „Schlagertexte“ zu widmen. Zwei Auszeichnungen hab ich zu vergeben: „Beste Anfangszeile aller Zeiten“. Und „Blödester Textausschnitt aller Zeiten.“

Der Preis für die beste Anfangszeile geht natürlich an Gunter Gabriel. Natürlich. Für vier kleine Worte. „Ich bin Bruno Wolf.“ – Besser geht’s nicht, oder? Da muss man erst mal drauf kommen. Bruno Wolf. Klasse! Außerdem find ich´s ausgesprochen höflich, wenn sich die Textperson erst mal vorstellt, bevor sie mit ihrem Geseiere anfängt. Sollten viel mehr Sänger machen. Muss aber natürlich auch zum Gesamtgestus passen, der Name. Also vielleicht: „Ich bin Pippi Kleinschmidt. …und hab heute nichts versäumt, denn ich hab nur von Dir geträumt.“ Oder „Ich bin Dorota Jablonski. …und fahr nach Lodz.“

Denn die große Gefahr – gerade bei „Hey Boss, ich brauch mehr Geld“ – ist ja doch, dass man sonst nicht kapiert, dass es eigentlich Rollenprosa ist. Nicht mal, wenn der Text so weitergeht: „…und bin seit 15 Jahren Truckerfahrer. Ich hab jeden Tag gearbeitet, war nie krank, hab eine Frau und zwei Kinder. Die Frau hustet, und der Sohn sollte eigentlich Zeitungen austragen. Aber der macht lieber mit seiner Freundin rum, deshalb sind wir jetzt pleite.“ Versteht kein Mensch, oder? „Wieso? Der fährt doch gar nicht Trucker. Der steht doch hier in der ZDF-Hitparade und singt. Und wo ist die Frau? Und die Zeitungen? Hä?“ Mal ehrlich, so geht´s uns doch viel zu oft. Und deshalb ist es gut, wenn erst mal eine Zeile kommt, die sagt: Ich bin eigentlich jemand ganz anders. Bruno Wolf zum Beispiel. „Ach so!“ Die einzige Gefahr, die jetzt noch bleibt, ist, dass Leute sagen: „Aber den Bruno Wolf hab ich doch grad noch getroffen. Der ist auf dem Weg zur Bude, um zwei Dunkelbier zu holen.“ Da wäre es vielleicht gut, zu singen „Ich bin Bruno Wolf. Und nicht wundern: es gibt mehrere von uns.“ Ja, so könnte es gehen.

Vorbildhaft in diesem Sinne sind die Lieder von Tommy Steiner. Obwohl ich dem eigentlich den anderen Preis verleihen wollte… Aber ich sollte vielleicht vorsichtig sein, denn soviel Umsicht wie in der betreffenden Textstelle sollte vielmehr belohnt werden. Hier hat man nämlich nun wirklich keine Chance, irgendetwas nicht zu verstehen. Drei Gürtel und vier Paar Hosenträger sozusagen… In folgende Worte gegossen: „Da ist ein Feuer, das ewig brennt. Das man das ewige Feuer nennt.“ –
Wahnsinn, oder? Hier wird nun wirklich niemand mit unverständlichen Metaphern überfallen. Viele Fans haben sich ja schon beim Kauf der Single gefragt: „Ewiges Feuer. Hm. Was mag das sein?“ Und flupp, im Preis schon mit drin: die sehr verständlich gehaltene Erklärung des Phänomens „ewiges Feuer“. Ein Feuer, das ewig brennt. Danke, Tommy Steiner. Oder dein Texter.

Da fällt mir ein – wo ich schon lobe – ich möchte noch eine weitere Person rühmen. Denn neulich hörte ich im Radio ein Interview. Ein Reporter sprach mit einer Hobby-Malerin, die sich auf Landschaftsmotive spezialisiert hat. Von naiver Malerei war dabei nicht die Rede, das sind jetzt böse Unterstellungen. Jedenfalls, der Reporter merkte an, dass auf den Bildern auffällig oft Schnee zu sehen ist. Ob das eine bestimmte Bedeutung habe? „Nö“, kam zur Antwort, „ich mal nur gern helle Bilder. Farben sind schwierig zu händeln, und helle Bilder mit wenig Farben sind einfach leichter zu malen.“ So viel Ehrlichkeit wünsch ich mir von viel mehr Künstlern! Nicht immer diese „Transzendenz des Andersseins“. Oder die „Menschwerdung der Immanenz“. Ganz zu schweigen vom „Aufschrei der unterdrückten Innerlichkeit“. Nein! Viel mehr Schriftsteller sollten sagen: „Ach, das hat keine Bedeutung. Die Buchstaben lagen einfach auf der Tastatur nebeneinander und waren leichter zu drücken. Das ist das ganze Geheimnis meines neues Romans ´Ghzughzghgzhughzuzh´.“ Oder: „Mehr als die zwei Griffe kann ich nicht, deshalb klingt meine Musik wie Status Quo.“

Eigentlich wollte ich jetzt Schluss machen, aber dies ist vielleicht der richtige Zeitpunkt, mal meinem Groll über ambitionierte Amateurbands Luft zu machen. Ich hab genug davon interviewt. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede. Denn was ist der gemeinsame Nenner all dieser Bands? Dass sie auf die Frage „Wie würdet Ihr Eure Musik beschreiben?“ geziert antworten: „Ach, die kann man eigentlich gar nicht beschreiben. Das wollen wir auch gar nicht. Denn wir passen in keine Schublade. Und solche Stil-Kategorien verfälschen doch immer mehr, als sie beschreiben. Die Leute sollen sich selbst ein Bild machen.“ Ja sicher. Aber wie sollen sich Zeitungsleser „ein Bild machen“? Bis heute legt die Saarbrücker Zeitung ihren Ausgaben keine Hörproben bei. Nicht mal, um die tolle lokale Bandszene vorzustellen. Und dann sollen sich Leser „ein Bild machen“ mit Statements wie „Unsere Musik kann man nicht beschreiben.“ Bestimmt ist die Reaktion in vielen Leser-Haushalten die folgende: „Oh! Musik, die man nicht beschreiben kann. Das macht mich jetzt neugierig. Die schau ich mir mal an. Das trifft bestimmt meinen Geschmack.“ Vielleicht aber auch nicht, denken sich viele Journalisten. Und packen die Musik, die man „nicht beschreiben kann“, in eigene Worte. „Die sechs sympathischen Musiker aus Niederbexweiler machen eine Mischung aus leicht pathetischen Synthie-Exzessen, fremdartig anmutenden Geigen-Einlagen und einer ganz dicken Schicht Stadionrock.“

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