Musikbücher III

Ihr, die euch die Gnade der späten Geburt vor so manchem bewahrt hat, werdet euch nicht erinnern können. Aber glaubt mir: Es gab eine Zeit, da jeder Rentner, der etwas auf sich hielt, hierzulande beim Anblick eines Langhaarigen schöne Visionen bekam. In ihm dräute dann die 1000jährige Sehnsucht nach einer freundlich im frühen Morgenlicht blitzenden Guillotine im propperen Hof eines wohlorganisierten Konzentrationslagers. Und er dachte (meistens still in sich hinein, manchmal laut aus sich heraus): Hei, wäre das nicht schön, wenn jetzt dieser langhaarige Kopf, der so arg voll ist von verseuchter Beatmusik, unterm Fallbeil=da zu liegen käme und – schwupp – abgeschlagen würde, auf daß er in ein weiches Auffangnest aus druckfrischen BILD-Zeitungen plumpsete? (Unsere ehemaligen Rentner beherrschten noch den altertümlichen Konjunktiv!)

Eh, werdet ihr jetzt rufen, was erzählt uns denn der Alte da? Aversionen gegen Langhaarträger und Liebhaber der Rockmusik? Wo doch in Amerika ein Präsident regiert, der am liebsten bei Bruce Springsteen ins Saxophon tuten würde? Wo drüben in Engelland der Premierminister Tony Blair heißt und Blur hört? Wo doch in Deutschland… tja, und da sind wir auch schon im Zentrum des Elends, wo sich Dichter und Denker gute Nacht sagen.

Natürlich will heute keiner mehr die Freunde einer zünftigen Rockmusik köpfen. Das nämlich setzte die Existenz eines Kopfes voraus, eines Behältnisses also, in dem gemeinhin gedacht wird. Aber Rockfreunde und denken? Gibt es das überhaupt? Müßte nicht vielmehr wer denken kann Konstantin Wecker hören? Oder Mozart oder Bach? Oder eine unserer Chansonetten, die früher Zigaretten rauchten wie die Piaf, aber heute Joguretten lutschen wegen der Figur und dem Ozonloch? Ja, müßten sie eigentlich. So jedenfalls scheint man in den Lektoraten unserer großen Publikumsverlage zu denken.

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Tatsächlich: Dort denkt man. Man hört Wecker und träumt vom Umsatz. Es kommt einem, daß Rockfreunde zwar analphabetisch, töricht und schon bei Drei-Wort-Sätzen überfordert sind, aber andererseits Kohle haben, denn die dümmsten Bauern haben die besten Jobs. Und hören eben Rock. Also, sagt sich der Lektor, machen wir wieder mal ein Rockbuch. Es muß, der Zielgruppe angemessen, mit einem unwiderstehlichen, gleich im Titel aufgeblasenen Anspruch daherkommen: „Die 100 des Jahrhunderts“ etwa, damit der Leser nicht auf den Gedanken verfällt, es gäbe noch etwas anderes daneben. Dann soll ausgewählt werden: Beatles, Stones, Elvis, die müssen rein, für die wenigen Intellektuellen unter den Rockfreunden (es gibt sie: Sie haben Mittlere Reife, rauchen Roth Händle und haben ein virulentes Potenzproblem) vielleicht noch die Sex Pistols, Steely Dan, Elvis Costello, Tom Waits und B.B. King. Damit aber das Kässlein munter klingelt, erklären wir auch Mariah Carey, die Kelly Family, die Toten Hosen, Take That, Bon Jovi und Joan Baez zu unsterblichen Heroen des Rock, damit auch der gutbetuchte Oberstudienrat, der rotzige Pubertierende, der alternative Spät-68er rasch die 16,90 Mark rüberreichen. Hat man dann ausgewählt, geht’s ans Schreiben, was die leichteste Übung ist. Oberste Regel: Einjeder der Helden bekommt zwei Seiten zugewiesen. Das ist ordentlich-deutsch und überfordert die Autoren keineswegs. Ach ja, die Autoren. Drei sind’s, einer Dr. gar, versteckt stehen sie ganz vorne im Buch, doch dereinst, wenn es heißt „die 100 besten Rockschreiber des Jahrhunderts“, wird ihr Licht hell erstrahlen. Vorausgesetzt, das Buch erscheint im Rowohlt-Verlag.

Der Rowohlt-Verlag. Wir wollen ihm zugutehalten, daß es auch einmal Zeiten gab, in denen aus dem Reinbeker Haus Erfreuliches in Sachen Rock kam. Das „Rocklexikon“ etwa, ein verdienstvoller Tropfen, der in den Siebzigern in die Rockwüste Deutschland fiel. Man durfte dem manchmal arg plakativen Stil der Autoren Schmidt-Joos und Graves gewiß nachsagen, er laboriere noch im Zustand des Sensationspressehaften – tat er, verdienstvoll war das Projekt dennoch. Ebenso die Reihe „Rock Session“, die uns zwar sehr soziologisch kam, aber auch Außenseiter und aktuelle Trends vorstellte. So lange, bis die Verkaufszahlen nicht mehr stimmten.

Danach begann die Tragödie – und schweigen wir darüber. Rockmusik in Buchform wurde eine Herzensangelegenheit einiger weniger Idealisten, die zumeist in Kleinverlagen die Fahne hochhielten. Sie hatten keinen „Apparat“, sie hatten keine Erfahrung, sie fielen auch auf manchen Schrott herein – aber sie waren die einzigen, denen man abnahm, sie interessierten sich überhaupt für Rockmusik und nähmen ihre Klientele ernst. Auch 2001 gab und gibt es weiterhin. Dort vertreibt man die Werke von Greil Marcus und manch andere Edelsteine, und wer Greil Marcus liest und dann besagte „100 des Jahrhunderts“ durchblättert – ihm kommt die Galle hoch.

Selbstverständlich: Jede Auswahl ist subjektiv. Und nicht jede Information, die uns das Büchlein präsentiert, ist falsch. Nein, die meisten stimmen sogar. Man kennt sie aber. Im Grunde nichtssagendes Faktenhäufeln und Raunen, nicht selten bemitleidenswert hilflos präsentiert. Da wird etwa Bob Dylan zum „Förderer“ der Byrds, was ja suggeriert, der große Meister habe stets ein wohlwollend Aug auf die Jungs von der Westküste geworfen und ihnen so manchen hübschen Song auf die Stimmbänder geschrieben. Was die Autoren meinen, wissen wir: Die Byrds haben von Dylan profitiert. Gefördert worden sind sie von ihm nicht, denn das setzte eine aktive Rolle Dylans voraus. Oder lesen wir kurz in den Hendrix-Artikel: Hendrix fixt und nimmt Tabletten. Schön. Es heißt nun: „Nachdem er 1968 unter Drogeneinwirkung ein schwedisches Hotelzimmer verwüstet hatte, wurde Hendrix‘ Verhalten in der Folgezeit immer -“ Ja, was wurde es? „Maßloser“ natürlich. Man ermesse die Flachheit des Ausdrucks! Hendrix‘ Verhalten wurde maßloser! Welches Maß wird da zugrundegelegt? Vielleicht das Maß der Ausbeutung, sowohl musikalisch als auch finanziell, dem Hendrix zeitlebens ausgesetzt war? Oder doch eher das Maß der beschränkten Wortschätze unserer drei Autoren?

Gut, lassen wir es dabei. Vielleicht bin ich hier überkorrekt. Richtig ärgerlich wird es jedoch, wenn man auf den knappen zwei Seiten, die man zur Verfügung hat, anfängt, wirklich voll in die Niederungen des Boulevards zu steigen. Was etwa gäbe es nicht alles über Joni Mitchell zu berichten! Was für eine Künstlerin! Was für eine Entwicklung! Was aber schreiben unsere drei Autoren? „Im selben Jahr (1990) schickte sie eine Ausstellung mit ihren Bildern quer durch Europa. In den 90er Jahren setzte sich Mitchell für die Aidshilfe ein und veröffentlichte mit „Turbulen Indigo“ (1994) und der Retrospektive „Hits & Misses“ (1996) weitere Alben.“ Schweigen wir ganz von der monotonen Syntax (Erst macht sie das. Punkt. Dann macht sie das. Punkt. Dann kriegt sie davon. Punkt.), die symptomatisch ist. Schweigen wir auch davon, daß die Retrospektive <Hits & Misses> nicht, wie suggeriert wird, EIN Album ist, sondern deren zwei, <Hits> und <Misses> nämlich. Nein, überlegen wir uns, ob es bei knappen zwei Seiten wirklich angebracht ist, auf eine Bilderausstellung einzugehen und ein Aids-Engagement. Wenn sie zwanzig Seiten zur Verfügung gehabt hätten – bitteschön.

Am Ärgerlichsten aber sind die teilweise aus Unkenntnis, teilweise aus sprachlicher Schludrigkeit geborenen Unwahrheiten dieses Buches. Trauriger Höhepunkt ist ausgerechnet der Steely Dan-Artikel. Es ehrt euch, Freunde, daß ihr meine Lieblinge überhaupt erwähnt. Aber laßt euch gesagt sein: „Steely Dan war stets eher ein Konzept als eine feste Musikgruppe.“, das stimmt nicht. Bis 1974 waren Steely Dan eine Band, die Platten machte und Konzerte gab. „Für die Plattenaufnahmen holte Steely Dan stets Gastmusiker ins Studio.“ ist ja nicht falsch, aber „zu den konstant Mitwirkenden gehörten die Gitarristen Jeff „Skunk“ Baxter und Denny Dias sowie der Schlagzeuger Jim Nodder“ eben nicht, sondern sie gehörten zur bis 1974 bestehenden Band. Richtig ist auch, daß „anschließend“ (d.h. nach 1981) „die beiden Musiker (Fagen & Becker) Steely Dan auf Eis legten (d.h. eigentlich hat man das Projekt beendet; aber sei’s drum)“ und „Fagen als Solokünstler erfolgreicher war“. Aber nicht, weil „Beckers Soloveröffentlichungen (…) gegenüber seiner Arbeit als Produzent zurück(standen)“, sondern weil Becker überhaupt keine Soloalben veröffentlichte, bis zu seinem Wunderwerk „11 Tracks Of Whack“ 1994, das in dem Artikel gar nicht erwähnt wird. Auch wie ihr, Autoren, auf „neun Steely-Dan-LPs“ kommt, bleibt ein Rätsel. Sollte die übrige Fachwelt zwei übersehen haben? Ärgerlich, am Ärgerlichsten. Aber am alleraller Ärgerlichsten: Wo, um alles in der Welt, sind in diesem Büchlein Creedence Clearwater Revival? Wo ist The Band? Ist der Beitrag von Supertramp zur Historie des Rock wirklich höher zu bewerten als der von, sagen wir: Gram Parsons?

Am alleraller Ärgerlichsten. Aber am alleralleraller Ärgerlichsten: Daß so etwas erscheint. Bei Rowohlt. Einem großen deutschen Publikumsverlag. Daß es auf den Krabbeltischen jeder Dorfbuchhandlung herumliegt und „Kauf mich!“ schreit. Daß manch argloser Liebhaber der Rockmusik zugreift. Während irgendwo unter einem Ladentisch Peter J. Kraus‘ nun wirklich gelungener „Rock-Highway“ verstaubt (Chr. Links Verlag). Daß du, willst du einem Lektor ein Rockbuch schmackhaft machen, einen Konstantin Wecker-Button am Revers tragen und beteuern mußt, nicht schreiben zu können, keine Ahnung von der Sache zu haben (das aber profund) und es dir eh wurscht ist, was das mit der Rockmusik wird oder war oder ist. Eh bloß U-Musik. Armes Deutschland, selber schuld. Stinkefinger/Abgang.

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