Puhdys – Rock’n’Roll Music

Cover: Puhdys – Rock'n' Roll Music (1976)

Fangen wir von Anfang an. Ich glaube an Gott. Es ist ja unvorstellbar, dass alles auf der Erde so schön ist, ohne dass es einen Schöpfer gibt, der es so schön geplant hat. Der Nichtgläubige würde hier sagen, dass es uns alles nur so schön vorkommt, weil wir keinen Vergleich haben, und wenn sich alles anderes entwickelt hätte, würden wir das auch schön finden. Quatsch. Glauben Sie es mir: wenn die Musik und die Frauen und die Blumen nicht so schön wären, würde ich zumindest das merken. Also: einen Gott gibt es. Aber eine richtige Religion? Lass mich überlegen….. ja, ich glaube Lemmy hat meine Religion am besten beschrieben: „Don’t you listen to a single word against rock’n’roll/the new religion/the electric church/the only way to go.“ Und ich weiß, dass es Millionen von Gläubigen gibt, für die der Rock’n’Roll die gleiche Rolle spielt, die ältere Religionen für Milliarden anderer Menschen spielen: Wir verlassen uns darauf, wenn die Fragen des Lebens zu groß und kompliziert werden.

Soweit zu dem tieferen Hintergrund. Das 4. Puhdys Album „Rock’n’Roll Music“ wurde 1977 in der DDR veröffentlicht, kurz danach auch in der BRD. In den Liner-Notes zu meiner 1981 Amiga-Nachpressung erzählt Keyboarder Peter Meyer wie das Album mit nachgespielten 50’s Rock’n’Roll-Liedern zustande kam: „Irgendwann haben wir…. einfach mal ein Rock-Medley für unsere Live-Konzerte zusammengestellt. Und das hat uns auf der Bühne und den Leuten im Saal dann solch einen Mordsspass bereitet, dass wir auf die Idee kam: Mensch, da machen wir eine Platte draus.“ Uriah Heep wurde nicht erwähnt, aber angesichts der Ähnlichkeit früherer Puhdys-Lieder wie „Türen öffnen sich zur Stadt“ oder „Geh dem Wind nicht aus dem Wege“ zu Heep-Hits wie „Gypsy“ und „Bird of Prey“, vermute ich, dass auch hier die Heepsters eine Vorbildsfunktion geleistet haben, mittels ihres Rock’n’Roll-Medleys auf der 4. Seite ihres 1973 Konzert-Doppelalbum.

Vielleicht war aber ein wichtiger Faktor – und hierüber würde ich gerne mal eines Tages mit den Puhdys selber sprechen – das Gefühl, dass ihr Publikum Nachholbedarf hatte. Als Amerikaner kenne ich mich nicht so gut aus, aber ich bekomme den Eindruck, dass in der DDR die Puhdys eine der ersten ernstzunehmenden Rockbands waren, und vielleicht wollten sie mit „Rock’n’Roll Music“ den Massen zeigen, wo die Wurzeln liegen, wo sie als Musiker die Inspiration gefunden haben. Elvis und Buddy Holly kannte ja jeder, aber auch ein paar relativ obskure Titel (z.B. „Tallahassee Lassie“ von Freddy Cannon) finden sich auf der Platte.

Die genauen Texte für solche Lieder heraus zu finden war, wie Meyer in den Notes erklärt, nicht so einfach. Auch wenn man Englisch-Muttersprachler ist, sind Rock’n’Roll Lieder oft schwer zu verstehen. Die Puhdys haben selbst Chuck Berry nach dem Text zu „Brown Eyed Handsome Man“ gefragt; Er wusste ihn auch nicht mehr. Die Puhdys-Fehler sind manchmal harmlos („Long Tall Sally, she’s pretty sweet“, anstatt das richtige „Long Tall Sally, she’s built for speed“), manchmal charmant („My Tallahassee Lassie, down in L.A.“, oder vielleicht „Adelaide“, anstatt „FLA“, die Abkürzung für Florida – das arme Mädel findet sich so oder so an der falsche Küste). Und manchmal wurde sogar verbessert, wie in „Party“, wo das völlig rätselhafte „I can shake a chicken in the middle of the room“ zum bildhafteren „A cat got a chicken in the middle of the room“ wurde.

Die Textänderungen sind interrasant. Wenn Die Puhdys einen Text nicht richtig verstehen konnten, warum haben sie nicht ein anderes Lied genommen oder aufgegeben? Der Wille, dieses Projekt mit diesen Liedern durchzusetzen, muss ziemlich groß gewesen sein.

Was auch immer die Motivation war, „Rock’n’Roll Music“ war ein Riesenerfolg. Man sagt mir, sie sei eine der meistverkauften Platten in der DDR-Geschichte, und wenn man die Platte hört, ist das nachzuvollziehen. Einige Lieder spielen die Puhdys etwas härter, nämlich „Good Golly Miss Molly“, „Hound Dog“ und das „Long Tall Sally“-Medley (die für mich denn gleich zu den Höhepunkten gehören). Und „Do You Want To Dance“ hat einen ganz leichten Disco-Touch, der nur aus den Siebzigern kommen konnte. Aber sonst blieben sie den Originalversionen sehr treu, verblüffend bei dem Gebrüder-Everly-Evergreen „Bye Bye Love“ oder Tommy Roe’s Buddy Holly-Hommage „Shelia“. Die Puhdys, 1A Musiker, hätten sich aus dem Stehgreif neue Arrangements ausdenken können, wollten aber diese zeitlosen Lieder in ganz simplen Arrangements spielen, so dass jeder Zweibeiner tanzen musste. Mordsspass, und darin liegt der Erfolgsgrund der Platte, ganz schlicht und einfach.

So glaubte ich, und so will ich glauben. Letztens hat aber ein Freund von mir, ein Westdeutscher, die Theorie vorgeschlagen, dass der Erfolg des Albums weniger mit der Musik zu tun hatte als mit der Tatsache, dass sie etwas Exotisches und nicht sehr Zugängliches in der DDR darstellte: amerikanische Kultur. Als er das sagte, hat mein Freund sogar erwartet, dass ich als Ami stolz darüber sein würde. Denkste!

Wenn Rock’n’Roll meine Religion ist, heißt das, dass die U.S.A. so etwas wie ein heiliges Land sind? Ich will nein sagen, fest steht aber: Die Musik wie wir sie kennen wäre nicht in einem anderen Land zustande gekommen. Zumindest in ihrer Geburtsform ist sie eng mit dem Riesenauto, dem Hamburger und der Konsumkultur verbunden. Und mit Coca-Cola. Als ich neulich America’s funniest Punks, die Dickies in Straßburg sah, trank Sänger Leonard Graves Phillips (den ich persönlich für ein Genie halte) aus einer Coca-Cola-Flasche. Einige französische Punks schimpften ihn: Füük Coca-Cola! Sein Antwort: „Oh, it’s like that, is it? WHAT ARE YOU, A BUNCH OF COMMUNISTS? IT’S COCA-COLA!“ Für ihn gehörte die Flasche selbstverständlich auf der Bühne. Und wenn die Puhdys Chuck Berry nach dem Text zu einem seiner besten Lieder („Back in the U.S.A.“, was vermutlich für die „Rock’n’Roll Music“-Platte nicht in Frage kam) gefragt hätten, hätte er bestimmt ganz schnell antworten können: „I’m so glad to be living in the U.S.A./Anything you want, they got it right here in the U.S.A.“ So einfach nennt Chuck den Grund, warum hunderte Millionen Leute – beide innerhalb und außerhalb Amerikas – diese Konsumkultur immer noch lieben. Ich bin sehr sentimental (ich meine, sehr sentimental – das singende Stofftier „Rockin‘ Rudi“ von Feindbild McDonald’s spricht mich an) und habe sie teilweise selber sehr gerne.

Als ich das WTC-Attentat im Fernsehen sah, gingen mir natürlich viele Gedanken durch den Kopf. Vor allem das Leid der Opfer, aber die schreckliche Wahrheit ist, Tausende von unschuldigen Menschen sterben jeden Tag, und ich will nicht erst darüber weinen, wenn sie meine Landesleute sind. Ich dachte auch an die Konsumkultur, die wir genießen, auf Kosten der Drittländer, für die zuwenig Ressourcen übrig bleiben, obwohl diese oft aus ihren eigenen Ländern stammen. Knapp drei Monate nach den Attentaten klingt es vielleicht schon wieder undenkbar, sogar lachhaft übertrieben, aber am 11.9. war alles denkbar, und ich fragte mich: wenn das hier der Anfang vom Ende ist – und damit meine ich, das Ende von der Konsumkultur – werde ich zurechtkommen? Es tut mir extrem weh, Michael Stipe („It’s the end of the world as we know it/and I feel fine“) in irgendeiner Art zuzustimmen, und ich glaube, er würde genauso unfreiwillig wie ich in ein System wechseln, in dem wir nicht alles, was wir uns leisten können, kaufen können. Aber wenn es zu einem solchen Wechsel käme, könnte ich im Großen und Ganzen sagen: es ist okay, ich liebe die Konsumkultur nicht.

Aber – und Sie wissen, was jetzt kommt – ich liebe Rock’n’Roll. Deswegen will ich wissen, dass der Rock’n’Roll größer als die Kultur ist, aus der er kam. Dass diese Musik ein Kind ist, das wie alle Kinder von seinen Eltern zwar geprägt ist, seine Eltern aber nicht mehr braucht. Kann man Rock’n’Roll von der Konsumkultur und dem Kapitalismus trennen?

Für (International) Noise Conspiracy lautet der Antwort natürlich: Ja. Sie singen es sogar ausdrücklich in „Capitalism Stole My Virginity“: „But now we are unsentimental and unafraid to destroy this culture that we hate.“ Sie überzeugen mich aber nicht, weil sie es nicht einmal für nötig halten, von spezifischen, konkreten Lebenssituationen zu reden. Okay, vielleicht doch zweimal: „I don’t mind breaking Starbucks windows“ und „We are waiting for what this culture fears/The end of dress codes, pants/skirts“ (ich frage mich, ob die Abschaffung der Kleiderregeln für Männer und Frauen nicht in manchen anderen Kulturen eher gefürchtet wird, aber egal). Das letzte Album von der Noise Conspiracy, „A New Morning, Changing Weather“, ist ein Genuss, und solche Bands, die uns mit voller Überzeugung auf die philosophischen und literarischen Grundlagen unserer Situation hinweisen, haben wir nötig. Wirkliche soziale Veränderungen, in welche Richtung auch immer, werden aber eher von denen verursacht, die sich nicht auf Dogmen verlassen. Man denkt an die „Velvet Revolution“ in der Tschechoslowakei, deren Teilnehmer Inspiration in den Texten der Velvet Underground fanden, obwohl diese zumindest an der Oberfläche kaum etwas mit politischer Revolution zu tun haben. Oder an Bob Dylan, der zu einer noch wichtigeren Figur wurde, nachdem er die politische Folk-Musik hinter sich liess, was zu Kritik von vielen weniger bedeutenden Protestsängern führte. Fazit: der Künstler muss auch mit den Leuten kommunizieren, die keinen Bock haben, Chomsky und Baudrillard und Amin zu lesen – mit mir, beispielsweise.

Viel überzeugender als „Capitalism Stole My Virginity“ finde ich deshalb diese vier Wörter von Buzzcocks‘ Pete Shelly: „I hate fast cars“. Das ist etwas, das ganz im Gegensatz zu den meisten Rock’n’Roll-Klassikern steht, ist aber selbst Teil eines Rock’n’Roll-Klassiker. Ein Satz also, der die Grenzen des Rock’n’Rolls erweitert. Er verpflanzt die Musik nicht in eine andere Kultur, aber vielleicht in eine andere Denkweise.

Manche werden hier zurecht an John Lennon denken: „Imagine no possessions/I wonder if you can“. Ein weiteres Bespiel fällt mir spontan ein: „I Was Wrong“ von Social Distortion. Wenn eine Revolution wirklich von innen anfangen muss, muss jeder Teilnehmer die Fähigkeit haben, „ich lag falsch“ zu sagen. Es gibt aber insbesondere im Punk-Rock kaum Lieder, die das so direkt und ehrlich sagen. Natürlich sangen die Crickets und Bobby Fuller und Joe Strummer „I fought the law, and the law won“, es ist aber nicht nur in der Clash-Version zu verstehen, dass das Rechtsystem zu unrecht gewonnen hat. Social Distortions Mike Ness (den ich persönlich für ein Genie halte) singt: „I realize now that I was wrong“. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Schritt für die Musik.

Solche Schritte sind in den Texten auf der Puhdys „Rock’n’Roll Music“ Platte natürlich nicht zu finden. Aber wenn überhaupt eine Platte mich überzeugen kann, dass Rock’n’Roll weder von einer Kultur noch von einem System begrenzt werden kann (um es ehrlicher auszudrücken: dass ich als Gläubiger kein Angst haben muss, vor den vielleicht unvermeidlichen sozialen Veränderungen den nächsten Jahren und Jahrzehnten), ist es diese Platte. Die Puhdys haben ja in einem anderen System, dem das DDR, gelebt. Ich kann nicht beurteilen, ob dieses System so grundsätzlich anders war, ob es besser oder schlimmer war, als das, das ich kenne. Solche Beurteilungen kann ich (wie übrigens alle Westdeutschen auch) nur von den Menschen erfahren, die jetzt in beiden Systemen gelebt haben. Ich glaube aber, dass das System der DDR zumindest nicht die Idee förderte, dass man sich mit Kaufen und Verbrauch glücklich machen kann. Die Puhdys haben es damals geschafft, Rock’n’Roll in dieses System zu verpflanzen. Deswegen sind sie für mich so etwas wie Helden.