So also sah ein Fernsehstudio von innen aus. Krawuttke blickte sich staunend um. Nicht, dass es ihn beeindruckt hätte. Er las lieber und verdächtigte die elektronischen Medien nicht ganz zu Unrecht, sie würden die Menschen noch mehr verblöden als es die Druckmedien und die Schulen schon erfolgreich praktizierten. Interessant war es aber doch, das emsige Treiben zu beobachten, das Hin und Her der Regieassistentinnen, die, wie man in der Unterhaltungsbranche schmunzelte, «vom Set zum Bett» und wieder zurück eilten. Zwar war ihre Kleidung bisweilen etwas nachlässig, um nicht zu sagen sehr durchlässig für Blicke, doch gewann der Commissario eine sehr positive Meinung von der Arbeitsmoral, welche für unsere Fernsehgebühren zur Schau getragen wurde.
Und Herr Tom Ackermann, der die Moderation der heutigen Sendung übernommen hatte, machte einen recht günstigen Eindruck auf den Commissario. Eigentlich war ihm der Mann als reichlich nervtötender Schwätzer in Erinnerung, ein eitler Pfau, der unaufhörlich über seine eigenen Scherze lachte, während seine Umwelt darauf wartete, dass er endlich einmal einen Witz produzieren würde. Doch nein; Ackermann saß sehr still in seiner Garderobe und blätterte im «Ulysses» von James Joyce. Dieses Werk hatte er sich schon als Knabe statt eines Bilderbuchs gewünscht, weil ihm zugetragen worden war, das Werk enthalte «gewisse Stellen», deren Lektüre die manuelle pubertäre Triebbefriedigung in nur der Hälfte der Zeit zum erfolgreichen Höhepunkt bringen würde, die er, Ackermann, normalerweise benötigte, wenn er die Aufklärungsbilder in der BRAVO betrachtete. Das Werk des großen Iren hatte ihn über die Jahre getreulich begleitet, und noch immer - so auch jetzt - suchte Ackermann nach den «gewissen Stellen», war er auch weit über das Stadium manueller pubertärer Triebbefriedigung hinaus. Als Berufsjugendlicher musste man jedoch auf alles vorbereitet sein.
Als ihm Krawuttke gestern eröffnet hatte, die eigentlich vorgesehene Sendung «Mein erster Sex. Die vier Luder erinnern sich an ihre Entjungferung» müsse thematisch einer drastischen Änderung unterzogen werden, da war Ackermann vor Entrüstung fast an die Decke gehüpft. Nein, er wollte kein Sendung moderieren, die «Schopenhauer in der heutigen Zeit. Die vier Luder diskutieren Gegenwartstendenzen der Philosophie» hieß. Wollten die Leute das etwa hören? Vielleicht; mochte sein. Aber wollten sie es auch sehen? Stand ihnen der Gedanke tatsächlich nach vier schlampig und hochgeschlossen gekleideten Ludern, bar aller Chancen, dass doch einmal eine nackte Brust aus dem Kleid hüpfte, ein Röckchen sich hob, um zu zeigen, seine Trägerin habe nichts für das Tragen von Slips übrig? Um Himmels willen! Nicht einmal Oberstudienräte und Mönche wollten sich das antun! Das Fernsehen war ein Medium, in dem man nacktes Fleisch betrachten und dumme Gedanken hören konnte. Da war es James Joyce, dem alten Dubliner Ferkel, weit überlegen. Punktum. Alles andere stand in Büchern. Und wer las denn noch? Er, Ackermann, natürlich.
Es hatte seine Zeit gebraucht, den sympathischen Moderator von der Notwendigkeit des Themenwechsels zu überzeugen. Denn Krawuttke hatte einen genialen Plan entwickelt, um den rätselhaften Promikiller zu düpieren und damit zu unüberlegten Handlungen zu zwingen. Es war ein gewagtes Spiel; würde Krawuttke dieses Spiel verlieren, wäre er für den Rest seiner Dienstzeit desavouiert und müsste im Polizeiarchiv die Messingknöpfe der Aktenkästen putzen. Sollte indes die Rechnung aufgehen, sah sich Krawuttke schon auf dem Olymp beruflicher Anerkennung, paradierten vor seinem geistigen Auge die Honoratioren an ihm vorbei, schulterklopfend und ordenverleihend, würde er das Leitbild ganzer Generationen angehender Kriminalisten, der Sherlock Holmes von der Waterkant, der Hercule Poirot für Nichtbelgier, die Miss Marple für Transvestiten, der Schimanski für Asthmatiker und so weiter und so fort.
Sein Plan war so gerissen wie einfach: Der unheimliche Killer hatte es – wahrscheinlich – auf die vier Luder abgesehen, weil diese den größten Teil ihres Lebens in Fernsehstudios herumhockten, kaum etwas anhatten und über ihre Entjungferung schwafelten. Wenn dem nun plötzlich nicht so wäre, wenn die Damen züchtig bekleidet und voller wertvoller Gedanken im Fernsehstudio herumhockten, dann, so der scharfe Verstand des Commissario, würde der Mörder entweder von seinem schändlichen Vorhaben ablassen oder, was noch besser wäre, aktiv werden, um herauszufinden, was da vorgefallen war. Man würde ihn auf jeden Fall düpieren, seine Absicht durchkreuzen. Er käme aus dem Konzept, müsste spontan handeln – und das würde die Chance für ihn, Krawuttke, sein, zuzuschlagen.
Es konnte nichts schiefgehen. Am Steuer des LUDERMOBILS, welches die Luder ins Studio bringen sollte, saß Westwall. In den Wagen, die dem LUDERMOBIL folgten, hockte der Rest der SoKo «Promikiller». Nein, es konnte nichts schiefgehen.
«Kann denn auch nichts schiefgehen?» fragte, von seiner Lektüre aufblickend, Herr Ackermann, als Krawuttke die Garderobe des großen Stars betrat.
Krawuttke lächelte. «Nein, nein, Herr Ackermann. Es kann nichts schiefgehen. Wenn Ihre Sendung genauso gut läuft wie unsere Aktion, dann stehen Sie vor dem größten Erfolg Ihrer Laufbahn.»
Ackermann fuhr sich träumerisch durch das noch immer erstaunlich volle und blonde Haupthaar. «ICH kenne ja meinen Schopenhauer!» brüstete sich der Moderator. «Ob ihn die vier Luder ähnlich gut im Griff haben, wird sich zeigen. Falls nicht, werden wir aber gezwungen sein dafür zu sorgen, dass wenigstens einem der Luder mal eine Brust unterm Pulli rausguckt. So ganz unbeabsichtigt. Das müssen Sie mir schon zugestehen. Hätten Sie einen besonderen Wunsch?»
Krawuttke stammelte irritiert: «Äh...was...Wunsch? Was für einen Wunsch denn?»
«Na, welchem der Luder die Brust rausgucken soll. Ob es besser die linke oder die rechte...»
«Ach so!» lachte Krawuttke. «Dann würde ich...»
Das Plärren seines Handys unterbrach den Redefluss.
«Ja, Krawuttke hier!» meldete sich der Commissario. Ackermann, der den Telefonierenden flüchtig im Blick hatte, wurde nun in den folgenden zehn Sekunden Zeuge einer sensationellen farblichen Metamorphose des Krawuttke'schen Gesichts. Dessen Teint nämlich, normalerweise ein fahles, von Sorgen und Arbeitsstress gebleichtes Dunkelbeige, wandelte sich innerhalb besagter zehn Sekunden in sämtliche 16,8 Millionen Farben, welche ein handelsüblicher Computermonitor dank des RGB-Systems darstellen kann. Es begann mit «Ärgerschwarz» (RGB-Nummer 0,0,0) und endete bei «Totenweiß» (RGB-Nummer 255,255,255).
Erst dann sagte der Commissario einen Satz. Es war, fand Ackermann, ein bemerkenswerter Satz. Nicht wegen seines Inhaltes, sondern wegen seiner grammatischen Konstruktion. Der Commissario sagte nämlich:
«Den Kopf innen Arsch werde ich – dass die Ohren in der Scheiße quirlen – Schweinsköpfe, verbeamtete, ihr – ihr – ihr – ihr.»
Dieser Satz, so schrieb Ackermann später im 12. Band seiner Memoiren, sei eines James Joyce würdig gewesen, obwohl nicht zu den «gewissen Stellen» gehörend.
Allmählich fand der Commissario zur normalen Syntax zurück:
«Was soll das heißen? Aus dem Wagen vor uns wurden Nägel auf die Fahrbahn gestreut! Na und! Da fährt man drüber und die Sache hat sich! Reifen kaputt, Reifen kaputt! Wenn ich das schon höre! In Stalingrad hätten sie nicht ein solches Geschiss gemacht, damals! Und der Peilsender? Meldet sich plötzlich nicht mehr? Gibt's nicht! Erzählen Sie das Ihrer Großmutter, Stock-Holm! – Waaaas?! Nur Westwall ist noch im Wagen? Und die Brandström? Die sollte doch hinten bei den Ludern sitzen und aufpassen, dass sie sich nicht ausziehen! – Wie bitte? Die sitzt im Mannschaftswagen und kocht Kaffee?»
Einen Moment lang verschlug es Krawuttke die Sprache. Dann schrie er in sein Handy: «Wenn das LUDERMOBIL nicht binnen fünf Minuten gefunden wird, reiß ich Euch den Arsch dermaßen auf, dass ganz Hamburg samt St. Pauli reinpasst!»
Ackermann war etwas beunruhigt. «Ist etwas, Herr Commissario?» fragte er vorsichtig. Der Commissario lächelte beruhigend. «Nur ein paar Kleinigkeiten, Herr Ackermann. Vielleicht muss der Beginn der Sendung um wenige Minuten verschoben werden.»
Das war Ackermann sehr recht. Er würde die Sendung auch ohne die Luder über die Bühne kriegen, denn das war seine Spezialität. Als ehemaliger bayerischer Jugendmeister im Schwadronieren besaß er die seltene Fähigkeit, stundenlang über das Nichts reden zu können. Über das Nichts an sich, das Nichts in der Philosophie seit Hegel und Kant, das Nichts in Forschung, Technik und Hollywood, ja, sogar über das Nichts in seinem Kopf.
Commissario Krawuttke hatte sich erschöpft auf einen Schemel gesetzt und grübelte. Was war geschehen? The worst case scenario: Der Mörder hatte die Bewachung des LUDERMOBILS ausgehebelt. Und weiter? Hatte er das Fahrzeug mit vorgehaltener Waffe gestoppt, Westwall erschossen (was die Pensionskasse der Hamburger Polizei entlastet hätte), die Luder notgezüchtigt und hernach auf eine besonders grausame Weise getötet (z.B. durch Vorlesen des Songtextes, mit dem «Die Tageszeitung» den Grand Prix d'Eurovision gewinnen wollte) und sich schließlich höhnisch grinsend aus dem Staub gemacht? – Alles war möglich. Krawuttke saß wie eine Statue auf seinem Schemel und versuchte, seinen Kopf frei zu machen, um ihn mit einem genialen Gedanken zu füllen. Es gelang nicht. Herr Ackermann indes wandte sich beruhigt seiner Lektüre zu und suchte weiter nach «den gewissen Stellen». Eines schönen Tages würde er sie finden. Und dann? Würde er die vier Luder notzüchtigen. Eines nach dem anderen. In der Phantasie. Nach einer Vorlage von James Joyce.
Zitat des Tages
«Aber ich bin doch sehr froh, das Buch (Agatha Christies "And then there were none") gelesen zu haben, weil es endgültig und für immer eine Frage ein meinem Kopf geklärt hat, bei der mich zumindest doch immer noch einige Zweifel bedrängten. Die Frage nämlich, ob es möglich ist, einen strikt ehrlichen Kriminalroman vom klassischen Typus zu schreiben. Es ist nicht möglich.»
(Raymond Chandler)
This day in crime history:
Song des Tages
AC/DC: Jailbreak