Es war gute Tradition, am ekligsten Tag des Jahres die Olympischen Spiele der ekligsten Sportarten mit einer würdigen Feier zu eröffnen. Schon der Begründer dieses ganz besonderen Weltereignisses hatte den Heiligen Abend im Visier, fiel er doch garantiert auf einen Tag, an dem keine deutsche Athletin, kein deutscher Athlet je auch nur eine Bronzemedaille auf internationaler Ebene zu gewinnen imstande gewesen war.
«Das Quasiverbot von Sportveranstaltungen am Heiligen Abend», schrieb Graf Ludger von Wolfsburg in seinen Lebenserinnerungen, «war von mir immer als einer der größten Skandale der Menschheitsgeschichte ästimiert worden. Bin ich nämlich schon immer der Meinung gewesen, dass der deutsche Mensch, selbst der weibliche, vom deutschen Spekulatius und deutschen Glühwein gestärkt, gerade an diesem speziellen Termin zu körperlicher Hochform auflaufen würde.»
Viele Dezennien hatte es eine einzige eklige Sportart gegeben, die ein olympisch anerkanntes Dasein fristete: Dressurreiten. Und genau hier waren es deutsche Sportsleute, die das Medaillentablett abräumten, als wäre es ein kaltwarmes Büffet.
In anderen, nicht ganz so ekligen Sportarten hingegen war die Lage trostlos. Es fehlte, so von Wolfsburg, das Stahlbad von Stalingrad, welches unseren Altvorderen noch Beine gemacht hatte, die schnell genug waren, wenigstens die Mittelstrecken in der Leichtathletik zu dominieren. Granatwerfer und Artillerieschützen wurden ebenfalls kaum noch ausgebildet, und das traurige Ergebnis wachsender Medaillenlosigkeit in den Wurfdisziplinen konnte so gesehen nicht verwundern.
Es war die ständige Sorge um Deutschland, die Graf Ludger Tag und Nacht umtrieb. Seine Gedanken wurden dabei tiefer und tiefer und stürzten nicht selten in die Schlucht, die sie selber gegraben hatten.
Vieles an Deutschland war eklig, das konnte auch ein so vaterlandsliebender Gesell wie der Graf nicht leugnen. Man hörte die ekligste Musik, produzierte und konsumierte die ekligsten Fernsehserien und veranstaltete regelmäßig die ekligsten Rechtschreibreformen. Momentan stand die Verwendung des Buchstabens «w» zur Disposition, da es jungen Menschen kaum zuzumuten war, einen Buchstaben zu lesen oder zu Papier zu bringen, der wahlweise wie ein Hintern oder Hängetitten aussah.
Nach und nach begann von Wolfsburg, sich besonders eklige Sportarten auszudenken. Die Vision jährlich stattfindender Olympischer Spiele in Deutschland nahm langsam Gestalt an, der Tag ihrer Eröffnung – Heiligabend – war logische Konsequenz des roten Fadens besonderer Ekligkeit, welcher sich durch Konzeption und Verwirklichung des großen Traumes zog. Zwar wäre auch der 20. April in Frage gekommen. Doch just an diesem Datum feierte von Wolfsburgs treue Schäferhündin Cordula Geburtstag.
Da der Graf selbst in jungen Jahren ein guter Schwimmer gewesen war (manchmal erinnerte er sich noch wehmütig an seine Ärmelkanalüberquerung im Jahre 1943, nach der London von einer furchtbaren Serie von Giftgasattentaten erschüttert wurde), stand diese an sich erträglich eklige Sportart im Blickpunkt der von Wolfsburg'schen Gedankenarbeit. Ihr Ergebnis war genial. Bevor man die Athleten ins Wasser ließ, jagte man ein Rudel Kleinkinder und Pfälzer durch das Becken, denen drei Tage lang jegliches Urinieren untersagt worden war. Die sehr rasch zu konstatierende Änderung der Wasserfarbe sowie ein sehr spezifischer Geruch erwiesen sich als eklig genug, das bald darauf im Volksmund so genannte «Pisskraulen» zur Kernsportart der Neuen Olympischen Spiele werden zu lassen.
In einem Akt besonders erleuchteter Kreativität erweiterte von Wolfsburg nun zunächst sein Programm um alle sich um dem Motivkreis der «ekligen Körperausscheidungen» rankenden Sportarten: Präzisionspinkeln auf die laufende Scheibe, Hochleistungsschwitzen, Pickeldrücken, Synchronkotzen oder Kotweitwurf gelangten so zur Kenntnis einer staunenden, zunächst skeptischen, bald jedoch begeisterten Öffentlichkeit.
Stolz war von Wolfsburg auch auf seine Idee, Tradition und Moderne, klassisches Ideal und puren Geschlechtstrieb in seinen Sportarten zu vereinen. Man denke nur an die sehr beliebte Sportart des griechisch-römischen Penisvergleichs. Hier wurde die Länge des betreffenden Körperteils nur oberhalb der Gürtellinie gemessen. Leider hatten hier ausgerechnet Afrikaner eine Art Abonnement auf die Goldmedaille, was von Wolfsburg wehmütig über die tempi passati deutschen Kolonialengagements reminiszieren ließ.
Doch solche Kleinigkeiten änderten nichts an der erdrückenden Dominanz deutscher Sportler und Sportlerinnen. Noch nie war es einem ausländischen Athleten gelungen, in den Disziplinen Popelzielwerfen und Spoxen (eine amüsante Mischung aus Spucken und Boxen) auch nur in die Nähe einer Medaille zu kommen.
Natürlich war von Wolfsburg, im Lande der Dichter und Denker geboren, auch ein Mann des Geistes. Davon zeugt eine «deutsches Schach» genannte Sportart, welche auf ihre Weise so eklig war wie «deutscher Markenschaumwein» und «deutsches Corned Beef». Die Regeln unterschieden sich nur in einem wesentlichen Punkt vom herkömmlichen Schach: Es war verboten, die Dame zu schlagen. Nicht zu Unrecht witterte von Wolfsburg in dieser Aktion eine chiffrierte Tat der Unbotmäßigkeit gegen die Oberen, eine «Revolution von unten», was qua definitionem verboten war.
Die feierliche Eröffnung der XIX. Olympischen Spiele der ekligsten Sportarten, die nun unmittelbar bevorstand, konnte ihr geistiger Vater nicht mehr miterleben, war er doch hochbetagt vor drei Jahren Opfer eines schrecklichen Unfalles beim Dressurreiten geworden, als er von seiner Frau fiel und sich das Kreuz brach. Schade; er war auf Goldkurs geritten.
Rund um das neuerbaute Olympiastadion «Frieda Linssen Arena» (benannt nach der elffachen Goldmedaillengewinnerin im Plastikchristbaumschmücken) hatten 40.000 Hilfspolizisten einen engen Kreis gezogen, den weder Mann noch Maus unbemerkt zu passieren vermochten, eine Herde Elefanten ausgenommen, der dies Kunststück indes nur gelang, weil keiner mit ihrem Erscheinen gerechnet hatte.
Über der Sportstätte patrouillierte eine Armada modernster Kampfhubschrauber, ein jeder besetzt mit bewährten Scharfschützen, die im Falle eines Attentats ziellos in die Menge der Besucher schießen würden, die nun, Bäuche voller Gänsebraten, Plätzchen und Sekt, dem Stadion zustrebte.
Dieses wurde von Scheinwerfern mit der Illusion eines hellichten Tages beglückt, eines sonnigen, wenn auch kalten. In den Katakomben der Arena harrten schon die Athleten, bereit zum feierlichen Einmarsch, den die Musik Dietmar Dielens untermalen würde.
Nur langsam füllte sich das prächtige Stadion, dessen Sitzschalen in dezentem Senfgelb gehalten waren, was zusammen mit dem haselnussbraun gespritzten Rasen einen reizvollen Kontrast zum grünen Licht der Fluter und dem Eitergelb des Schutzzaunes darstellte.
Auch bei diesen Details war man dem großen Gründer Ludger von Wolfsburg verpflichtet, oder sagen wir es genauer: dessen Science Fiction Thriller «Eichhörnchen 512 antwortet nicht», einem bis heute völlig unterschätzten Werk, welches der Unermüdliche binnen zwanzig Jahren in den knappen Stunden Freizeit mit dem Blut seines Herzens geschrieben hatte.
In «Eichhörnchen 512 antwortet nicht» geht es um die schleichende Verdummung des deutschen Volkes, die, wie von Wolfsburg kryptisch andeutet, «von dunklen Elementen aus dem Ausland», vermittels eines Lebensmittelzusatzes erreicht werden soll. Wolf von Ludgersburg, der Held des Werkes, hinter dem sich, wie Literaturwissenschaftler vermuten, das alter ego des Autors verbirgt, bekämpft die Volksschädlinge mit den seinem Vaterlande eigenen Waffen: Ärmel hochkrempeln und ran an den Feind.
Nach 764 Seiten - der Roman geht allmählich seinem Ende zu - kommt es in einem menschenleeren Stadion zum großen Showdown: Wolf von Ludgersburg hat den Ultrahauptbösewicht, einen hinsichtlich seiner Nationalität nicht näher gekennzeichneten «Ali Iwan Süß», in die Falle gelockt, man steht sich nun, mitten auf dem Rasen, gegenüber.
Diesen Schauplatz der turbulenten Erlösung des deutschen Volkes (denn es versteht sich, dass Ludgersburg den Schelm letztlich mit einer Laserkanone unschädlich macht und sich des Gegengiftes bemächtigt, das zwar die Deutschen nicht mehr klüger werden lässt, aber dafür sorgt, dass sie nicht merken, wie blöd sie sind) hat der Autor farblich recht eigenwillig gestaltet - nämlich so, wie es die Erbauer des Olympiastadions Jahrzehnte später als Hommage an den Meister auch getan haben. Eine rührende Geste.
Der Träger der deutschen Fahne tippelte nervös auf der Stelle. Vor Moritz Bärs innerem Auge rollte die Veranstaltung im Zeitraffertempo ab, und dieser kurze schnelle Film verstopfte alle Drüsen des Titelverteidigers im Hochleistungsschwitzen. Was, wenn er, beim stolzen Stechschritt, plötzlich so viel Schweiß in die Augen bekäme, dass er nichts mehr sähe und unglücklich gegen eine Fernsehkamera marschieren würde? Was, wenn ihn beim olympischen Eid ein heftiger Niesanfall überkäme? Was, wenn die Zahnbürste, die jeder der Athleten in der Hosentasche hatte, nicht funktionieren würde?
Mit den Zahnbürsten hatte es eine besondere Bewandtnis. Sie waren ein hervorragendes Produkt deutscher Ingenieurskunst, handelsüblichen Zahnbürsten zum Verwechseln ähnlich, jedoch mit einem filigranen und überraschenden Innenleben. Hielt man die Bürsten senkrecht in die Luft und streichelte sachte ihre Borsten, wurde ein verborgener Mechanismus ausgelöst, der eine im Griff der Bürste deponierte, ca. acht Zentimeter lange Zahnpastawurst aus einer Öffnung am oberen Ende der Bürste wenigstens einhundert Meter in die Luft katapultierte. Es war vorgesehen, dies zum spektakulösen Abschluss der Feier von allen Teilnehmern gleichzeitig tun zu lassen, um den Gästen im Stadion und an den Fernsehgeräten einmal etwas anderes zu bieten als die ewigen ennuyierenden Feuerwerke. Mit etwas Glück würden sich die rosaroten Würste hoch über dem Stadion zu einem einzigen Klumpen Zahnpasta vereinen und, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, auf die Zuschauer hernieder kommen wie die Feuerzungen an Pfingsten, nur vehementer und lebensgefährlicher.
Im Winkel seines rechten, längst vom Schweiß zugeregneten Auges sah Moritz Bär den Monitor an der Wand, auf dem die Zeremonie live übertragen und von einer der ersten Größen des Landes kommentiert wurde. Ganz schwach drang die Stimme des Mannes in das Bär'sche Bewusstsein:
«... erwarten wir eine stimmungsvolle Eröffnungsfeier, die mit dem großen Finale enden wird, bevor dann Hermine Helm und Marianne Morgenthau ihren Titel im Synchronkotzen aller Voraussicht nach souverän verteidigen werden und so dafür sorgen, dass bereits der erste Medaillenspiegel dieser Spiele den Namen Deutschland ganz oben führen wird. Machen Sie mal schon eine Flasche guten deutschen Schaumweins auf, meine Damen und Herren, damit auch Sie etwas zu Kotzen respektive Feiern haben werden. Doch jetzt warten wir auf die 605 Teilnehmer, die gleich, mit einer Zahnbürste der Firma Dr. Merch ausgerüstet, in die Arena einmarsch...»
Rühhoff, der es sich wie 80 Millionen andere Deutsche vor seinem Fernseher gemütlich gemacht hatte, sprang auf. Ihm war, als habe ihm ein gütiges Schicksal den Schlüssel zum Rätsel überreicht, es musste nur noch aufgesperrt werden und schon stand der Journalist im Saal der Geheimnisse, die nun auf einmal keine Geheimnisse mehr waren.
1 – 2 – 3 – 4 – 14 – 605: Natürlich! Und jetzt wusste er auch, wo er das Gesicht schon mal gesehen... es lief ihm eiskalt über den Rücken. Wenn das wahr wäre... nicht auszudenken!!! Eine Katastrophe! Aber eine andere, näher liegende Katastrophe war zu verhindern. Stimmte Rühhoffs These – und alles sprach dafür – dann schwebten in diesem Augenblick 605 verdiente Sportler in höchster Lebensgefahr. Er musste handeln.
Rühhoff stürzte zum Telefon und wählte atemlos.
Zitat des Tages
«Aber ich bin doch sehr froh, das Buch (Agatha Christies "And then there were none") gelesen zu haben, weil es endgültig und für immer eine Frage ein meinem Kopf geklärt hat, bei der mich zumindest doch immer noch einige Zweifel bedrängten. Die Frage nämlich, ob es möglich ist, einen strikt ehrlichen Kriminalroman vom klassischen Typus zu schreiben. Es ist nicht möglich.»
(Raymond Chandler)
This day in crime history:
Song des Tages
AC/DC: Jailbreak