Der TRANSRAPID fraß sich durch die Nacht. Seine Abteile fuhren an diesem Heiligen Abend fast leer, in der Ersten Klasse hockten, das Wohl der Wirtschaft im Auge, mehrere Vertreter des Mittelstandes und spielten «Minesweeper» auf ihren Laptops.
Rühhoff hatte nur eine Fahrkarte für die Zweite Klasse gelöst und es sich in einem der leeren Abteile bequem gemacht. Doch nicht einmal der Lärm betrunkener Soldaten oder Fußballfans hätte ihn stören können, zu sehr gruben seine Gedanken in den Entdeckungen der letzten Stunden, und die Wahrheit, die dabei zu Tage gefördert wurde, war stets dieselbe, und es war eine bittere, ja, die bitterste.
Er hatte die Aktion des Kommissars und seines denkwürdig gekleideten Helfers vor dem Fernsehschirm verfolgt, fühlte sich auch, als da 604 Menschen vor dem sicheren Tode errettet wurden, sekundenlang wie ein Held, um aber gleich darauf in eine noch nie gekannte und von Rühhoff nie für möglich gehaltene Depression zu stürzen.
Er wusste, wer hinter all den Scheußlichkeiten der letzten Wochen steckte und sah doch keine Möglichkeit, diese Person unschädlich zu machen. Die Polizei verständigen und über den Sachverhalt aufklären? Vergiss es! Man würde ihn auslachen. So konnte das Monster weiter morden - und es stand nicht zu bezweifeln, dass die nächsten, womöglich noch abscheulicheren Taten bereits geplant waren.
Nein, er musste die Dinge selbst in die Hand nehmen, sich notfalls opfern. Schnell waren ein paar Kleider in einer Reisetasche verstaut, Rühhoff nahm ein Taxi zum Bahnhof und hatte Glück. Ein Zug nach Berlin ging in wenigen Minuten.
Ein ratterndes Metallwägelchen vor sich her schiebend, kam die adrette Servicefrau an Rühhoffs Abteil vorbei. Der Passagier erwarb eine Art Kaffee und eine Art Schinkenbrot für teuer Geld, freute sich nur mäßig über die gratis dazu gereichte Christbaumkugel aus geschmackfreier Schokolade und wünschte der Dame ein fröhliches Weihnachtsfest, weil sie ihm das, mit einem Lächeln, ebenfalls gewünscht hatte.
«Na ja!», stöhnte die Servicefrau, «So fröhlich ist das nicht. In der Ersten Klasse randalieren sieben betrunkene Weihnachtsmänner, so Langzeitarbeitslose, die das als 400-Euro-Job machen, und wollen unbedingt das Christkind vergewaltigen. Aber das Christkind will nicht. Es hat seine Tage.»
Rühhoff schüttelte nur verständnislos den Kopf. Natürlich hatte das Christkind seine Tage. War doch Heilig Abend. Und wer wollte hier wen vergewaltigen? Sieben betrunkene Langzeitarbeitslose den Weihnachtsmann? Der aber 400 Flocken bar auf die Kralle haben wollte? - Nein, sein Verstand funktionierte heute nicht wie gewöhnlich. Er hatte die Auffassungsgabe eines pubertierenden Trägers zu großer Hosen und das logische Vermögen einer sauerländischen Hausfrau im Pupsi-Cola-Rausch. Er biss in sein Schinkenbrot und neutralisierte den Nichtgeschmack mit einem Schluck Nichtkaffee.
Knapp drei Stunden würde der Zug brauchen, denn er fuhr zwar ohne Zwischenstation nach Berlin, musste aber einen Umweg über Hannover machen, weil sich die Hannoveraner beschwert hatten, der schmucke Transrapid fahre nicht durch ihre ebenfalls schmucke Stadt.
Kurz vor Hannover wurde die Tür zu Rühhoffs Abteil aufgerissen und ein sehr keuchender und erboster Mann mittleren Alters und arbeitgebertechnisch mittleren Standes kam herein, einen Laptop in der Linken, eine Reisetasche in der Rechten. Ihm folgte auf dem Fuße ein etwa zehnjähriger Junge, seinem Vorgänger wie aus dem Gesicht geschnitten und also dessen Sohn.
«Setz dich, Bengel!», herrschte der Mittelständler das Kind an und setzte sich selbst Rühhoff gegenüber, den er mit einem «Guten Abend» begrüßte. Der Junge nahm neben seinem Vater Platz.
«Ich bringe das Früchtchen hier zu meiner Geschiedenen nach Berlin zurück. Bin froh, dass ich den Lausert nur an Heiligabend bei mir haben musste, damit wir friedlich Bescherung feiern konnten. Jetzt sag mal dem Onkel, was dir der Papi alles geschenkt hat!»
Der Knabe blickte Rühhoff mit jener Traurigkeit an, die der Journalist, obwohl kein Scheidungskind, nur zu gut kannte. Man hat sie immer in der Visage, wenn einem die Welt gerade noch eine Handgranate wert wäre, man aber leider keine Handgranate zur Verfügung hat. So, durchfuhr es Rühhoff, muss es IHM auch gehen. Aber er hat viele Handgranaten.
«Ich hab», begann folgsam das Kind «ein Monopoly Golden Edition bekommen, das ist globalisierungstauglich und man kann die Neger aus ihrem Kral vertreiben, wenn man die Häuser kauft. Dann habe ich - ein Buch bekommen, das heißt ‚Personal Outsourcing und Lean Management für Grund- und Hauptschüler aus mittelständischen Familien» sowie ––– einen Werbekugelschreiber der Firma INSECTA aus Bremerhaven.»
«Guter Kunde!», erklärte der Vater stolz, «Ich mache in Bürobedarf für die insenktenvernichtende Industrie.»
Rühhoff sagte «Aha.» und nickte.
«Eigentlich haben wir Erster-Klasse-Tickets», fuhr der Unternehmer brutal fort, Rühhoff die Zeit zu vertreiben, «aber da hocken sieben Weihnachtsmänner...»
«Ich weiß», unterbrach ihn Rühhoff. «und das Christkind hat seine Tage.»
«Genau», bestätigte der Junge und bekam ob dieser frechen Antwort eine schallende Ohrfeige seines Vaters, der folgende Erklärung für diese Tat hinzufügte:
«Erstens sollst du nicht dazwischenquatschen, wenn sich Erwachsene vernünftig unterhalten, zweitens hast du noch gar nicht zu wissen, was die Tage einer Frau sind und dass sie überhaupt welche hat, und drittens ist das Christkind nicht das Christkind, sondern eine Nutte, die vor ihrem Zuhälter aus Hamburg geflüchtet ist.»
«Und viertens hast du ihr selber hundert Euro geboten, wenn sie dir auf dem Klo einen blasen würde», ergänzte der Sohn pflichtbewusst.
«Du Ausgeburt einer Hippiefrau!.» kreischte der Vater und setzte zu einer zweiten, noch gewaltigeren Ohrfeige an. «Ich habe 50 angeboten! Meinst du etwa, ich hätte es jemals zum mittelständischen Unternehmer gebracht, wenn ich einer gewöhnlichen Nutte 100 fürs Blasen gezahlt hätte?!»
Vielleicht, dachte Rühhoff in dieser Sekunde, verstehe ich den Killer ganz gut. Vielleicht hat er sich nur die falschen Opfer ausgesucht und richtet seinen Blick zukünftig auf - aber nein, das steht nicht zu erwarten.
Vater und Kind hatten sich inzwischen beruhigt. Der Alte hantierte an seinem Laptop, der Junge flennte sämtliches Elend dieser Welt still in sich hinein. Im Gang war eine Polonäse der sieben betrunkenen Weihnachtsmänner aktiv, die auch das Abteil Rühhoffs lautstark passierte. Der Reisende musste zu seiner Überraschung feststellen, dass es sich bei den Weihnachtsmännern ausschließlich um Türken handelte, die Weisen aus ihrer anatolischen Heimat grölten, unterbrochen nur von der in akzentfreiem Deutsch gesungenen, bitteren Wahrheit:
«Wir sind in der EU!
Und Ihr Sauerkrautfresser schaut zu!
He-la-di-la-di-ho!!!»
Die Sänger spielten damit auf die in Deutschland noch immer nicht verwundene Tatsache an, dass anlässlich des Beitritts der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft der Ausschluss Deutschlands aus eben dieser verkündet worden war, nachdem auch im 25. Jahr hintereinander die Neuverschuldung des Staates über der Dreiprozentmarke gelegen hatte.
«Saumuslime!», schleuderte der Mittelständler in Richtung der sieben tanzenden Derwische. «Wenn wir eine vernünftige Regierung hätten, wären die doch alle längst wieder daheim! Aber nein, nein, nein! Unsere Volksvertreter behalten die Hände im Schoss, und wer weiß, was sie dort machen! Dieser Bundeskanzler da... äh... wie heißt er noch mal...?»
Diese in Richtung seines Sohnes geäußerte Frage zog den Filius aus seinem grenzenlosen Blues zurück in die Welt der Bildung, und er antwortete wie aus der Pistole geschossen:
«Pullmann...äh, glaub ich!»
«So! Glaubst du! Aber egal! Die Namen von diesen Typen brauchst du als Unternehmer eh nicht zu wissen. Nur, wie hoch die Summe ist, mit der man sie bestechen kann! Dieser Pullmann also.... eine Null... ein Versager... ein Stück Parteischeiße! Ist seit... lass mich mal nachdenken...1,2,3,4 Jahren im Amt, hat 14 Minister zur Verfügung und 605 Abgeordnete im Bundestag - und was tut er? Nichts! Absolut nichts! Und das von MEINEN Steuergeldern!»
Rühhoff wurde schwarz vor Augen. Er stand auf, taumelte aus dem Abteil, über den Gang, suchte und fand eine Toilette, die so versifft war, dass seine Übelkeit mit einem Schlag noch einmal so übel wurde, und kotzte auf die geschlossene Klobrille.
Die Ausweglosigkeit seiner Aufgabe stand Rühhoff mit einem Male brutal vor Augen. Was er tun musste, war nichts weniger als ein Staatsstreich, ein politisches Attentat - oder, falls alles wider Erwarten ohne Blutvergießen über die Bühne ginge, doch ein Akt von solcher Geschichtsträchtigkeit, dass er auf einer Stufe mit Bismarck, Hitler, Adenauer, Brandt und Helmut Kohl stünde. Bloß dumm, dass wohl nie ein Mensch davon erfahren würde.
Rühhoff säuberte notdürftig Mund und Kleidung und ging in sein Abteil zurück, wo der Mittelständler inzwischen über seinem Laptop entschlummert war und der Sohn den Wiederankömmling interessiert anstarrte.
«Ist Ihnen auch so schlecht?», fragte er leise.
«Noch schlechter», antwortete Rühhoff.
«Ich glaube nicht, dass Ihnen jemals so schlecht sein kann wie mir», behauptete der Knabe, und Rühhoff musste ihm insgeheim Recht geben.
«Ja. Mag sein. Aber eins musst du mir versprechen, mein Junge. Wenn du einmal groß und stark bist, trittst du deinem Alten in die Eier.»
Der Sohn nickte.
«Ich glaube nicht, dass Sie sich vorstellen können, WIE hart ich ihm ins Gehänge treten werde.»
Rühhoff war zufrieden und starrte für den Rest der Reise aus dem Fenster.
Zitat des Tages
»Ein Star zu sein ermöglichte es mir, an Orten beleidigt zu werden, wo der durchschnittliche Neger niemals hoffen konnte, beleidigt zu werden.«
(Sammy Davis jr.)
This day in crime history:
1989 starb der französische Regisseur Bernard Blier ("Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh").
Song des Tages
Boomtown Rats: I don't like Mondays
»Tell me why.
I Dont't like Mondays.
I want to shoot.
The whole day down.«