Venetia Klavinsky stand vor dem Spiegel und hätte sich am liebsten selbst umarmt. Es war früher Nachmittag, und weil am Abend eine neue Performance der VIER LUDER auf dem Programm stand, war es höchste Zeit, sich vom Aschenputtel in die Prinzessin zu verwandeln.
Sorgfältig entfernte Venetia eine Träne von ihrer rechten Wange. Ja, sie hatte geweint. Denn heute Morgen, beim Lesen der TEXT-Zeitung, waren ihre Gedanken zu Dietmar gewandert. Ihrem Dietmar. Seit Tagen veröffentlichte dieses wunderbare, pietätvolle Blatt Gedichte von Lesern, die Leben und Werk Dietmar Dielens in Poesie gossen. Heute zum Beispiel das Gedicht von Frau Frederike Schauinsfeld-Maschtuni, dessen erste Verse wie ein Hammer auf die Tränendrüsen der Venetia geschlagen hatten:
Dietmar Dielen, unser Held
Bester Sänger dieser Welt
Eier ab, das ist nicht cool,
Du warst hetero, nicht schwul.
Dietmar Dielen, alte Socke
Höre nur, wie ich dir locke.
Ohne Pimmel, ach du Schreck,
hat das Bumsen keinen Zweck.
Die TEXT-Zeitung hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben, um das beste Gedicht von einem Meister seines Faches vertonen zu lassen. Es sollte dann von Herrn Tom Muxenschrader bei der deutschen Endausscheidung zum Grand Prix d'Eurovision vorgetragen werden, um - an seinem Sieg war nicht zu zweifeln - später die Farben unserer Heimat beim großen Finale zu vertreten. Wenigstens ein paar Mitleidspunkte aus Österreich konnten einkalkuliert werden und somit Platz 21, was ein schöner Erfolg für Herrn Muxenschrader wäre. Allerdings: Wenn er es rein physisch bis zum Finale schaffen würde. Wer sagte denn, dass nicht Herr Muxenschrader das nächste Opfer des Killers sein konnte? Vorsichtshalber hatte die TEXT-Zeitung schon Herrn Wolfgang Petry als Ersatz eingeplant. Sollte auch dieser draufgehen, musste Herr André Rieu die ganze Chose auf der Geige kratzen, bei gleichzeitiger Einblendung des Textes für die Fernsehzuschauer.
All das ging durch Venetia Klavinskys ebenso klugen wie schönen Kopf. Ihr Dietmar. Sie hatten geheiratet. Sie hatten sich geliebt. Sie hatten bis spät in die Nacht zusammengesessen und über Arthur Schopenhauers «Die Welt als Wille und Vorstellung» diskutiert. Dietmar hatte ihr stundenlang über die Wonnen der Buchführung vorgeschwärmt. Er machte es ja am liebsten französisch, mit Soll und Haben, Aktiva und Passiva, Wille und Vorstellung.
Doch, ach, es hatte nicht sein sollen. Was zwar zwischen sie geraten, dass sie sich eines Tages fremd geworden waren? Welche böse Macht konnte ihr Glück nicht mitansehen? Gab es tragischere Liebesgeschichten als die von Venetia und Dietmar? - Wir wissen es nicht. Wir wollen es auch gar nicht wissen. Es bräche uns das Herz.
Natasha Arthur-Fahrrad, bekannt als die Knubbel im Heuhaufen, saß vor dem Spiegel und hätte sich am liebsten selbst umarmt. Sie tat das Gleiche wie Venetia Klavinsky nur 5 Kilometer Luftlinie entfernt. Sie bereitete sich auf die Performance vor, wischte eine Träne von der linken Wange, weil sie die TEXT-Zeitung gelesen hatte, in der folgende kleine Ode von Herrn Willibald Schmock aus Kleinwusterhausen sie im Innersten berührt hatte:
Dielen, Dielen, Dielen
Hattest viele Kohlen
Jetzt ist alles weg.
Dietmar, Dietmar, Dietmar
Nie mehr kehrst du wieder
Singst uns keinen Dreck.
Ihr Dietmar. Sie hatten nicht geheiratet. Sie hatten sich geliebt. Sie hatten bis spät in die Nacht zusammengesessen und über Arthur Schopenhauers «Die Welt als Wille und Vorstellung» diskutiert. Dietmar hatte ihr stundenlang über die Wonnen der Buchführung vorgeschwärmt. Er machte es ja am liebsten französisch, mit Soll und Haben, Aktiva und Passiva, Gummi und Gleitcreme.
Doch, ach, es hatte nicht sein sollen. Was war zwischen sie geraten, dass sie sich eines Tages fremd geworden waren? Welche böse Macht konnte ihr Glück nicht mitansehen? Gab es tragischere Liebesgeschichten als die von Knubbel und Dietmar? - Wir wissen es nicht. Wir wollen es auch gar nicht wissen. Was soll denn Frau Venetia von uns denken.
Ariadne Faden saß vor dem Spiegel und hätte sich am liebsten selbst umarmt. Was sie tat, taten Venetia Klavinsky und Knubbel zur gleichen Zeit an anderem Ort. Sie wischte sich eine Träne von ihrer mittleren Wange und dachte an Dietmar Dielen, über den der Dichter Lothar Lukas in der TEXT-Zeitung gedichtet hatte:
Süßer, bist nun nimmer da!
Meine Seel singt tralala.
Als du nämlich warst noch hier,
Sang sie immer tirilir.
Süßer, sag wo bist du nun?
Hast du immer noch zu tun?
Und hat deine Seele
Endlich eine Kehle?
Ihr Dietmar. Nein, sie hatte ihn nicht geheiratet. Nein, sie hatte ihn nicht einmal gekannt. Aber sie hatte Schopenhauers «Die Welt als Wille und Vorstellung» gelesen und französische Buchführung in der Schule gehabt. Gibt es tragischere Liebesgeschichten? Wir wissen es nicht. Das heißt: Wir wissen es wohl. Aber der Anblick von Ariadne Faden lässt unseren Verstand sprachlos in die Hose rutschen.
Jeannie Butsch saß vor dem Spiegel und umarmte sich. Sie suchte nach einer Träne zum Abwischen, fand aber keine, weil ihr heute Morgen die TEXT-Zeitung aus Gründen, die im Dunkeln blieben, nicht geliefert worden war.
Ihr Dietmar? Sie hatte den nicht einmal gekannt! Aber Schopenhauer kannte sie. Den hatte sie erst kürzlich wieder auf einer Party getroffen und sich mit ihm vortrefflich über seinen neuen Ratgeber «Die Welt. Will ich in die Vorstellung?» unterhalten. Charakterkopf, das.
Jetzt hörte sie auf, sich zu umarmen, denn es war schon spät. Bald würde das LUDERMOBIL vorfahren und dreimal hupen. Die vier Luder hatten zusammengelegt und sich das Fahrzeug von einem abgehalfterten Politiker günstig gekauft, damit sie immer gemeinsam zu all den Talkshows, Parties und Dichterlesungen vorfahren konnten. Es hatte sogar einen eigenen Schminkraum.
Da - Es hupte dreimal. Schnell warf Jeannie Butsch den alten grünen Parka über die Schultern und verließ ihre Wohnung. Komisch war sie heute angezogen; aber die Polizei hatte es so gewollt: Vergammelte Jeans, weiter Pulli, Parka und ausgelatschte Turnschuhe. Ungeschminkt. Ohne Schmuck. Die Mitesser nicht mit CLEARASIL abgedeckt. Komisch. Aber die Herren dachten sich hoffentlich was dabei. Obwohl - ein Fernsehauftritt, man stelle sich das vor! Mit Tom Ackermann! Und ankommen wie die letzte Sozialhilfeempfängerin! Na gut, da hätten die Zeitungen morgen wieder etwas zu schreiben.
Gideon Westwall wartete geduldig an der Tür zum Wohnbereich des geräumigen LUDERMOBILS. Drinnen waren Knubbel, Venetia und Ariadne bereits in ein sehr philosophisches Gespräch über Schopenhauer vertieft und stritten, ob die Welt mehr Wille war oder der Wille eher weltlich, beziehungsweise, wie die Fachliteratur mehrheitlich dekretiert, der Weltwille letzten Endes zu einer Willenswelt führt, die ... undsoweiter. Westwall war bei der Mordkommission und hatte sich verpflichtet, keine philosophischen Diskurse zu führen, die über dem Niveau des Binnensenators lagen. Zumal ihm anderes durch den Kopf ging. Seit Tagen übte er mit dem Gurkenspieß «Odysseus» das Extremgurkenfischen, eine Sportart, in der er sich trotz seines erheblichen Übergewichts und der von Kindesbeinen an zu beklagenden mangelnden Körperkoordination manch schönen Erfolg erhoffte. Bisher hatte es gerade einmal zu vier gleichzeitig aus dem Glas gefischten Gurken gereicht, womit er bei der letzten Hamburger Meisterschaft nicht einmal ins Viertelfinale vorgestoßen wäre. Einmal waren es fünf gewesen, aber die fünfte Gurke war beim Herausfischen wieder ins Glas zurückgefallen und somit ungültig gewesen. Aber Westwall gab nicht auf; er war ein harter Hund.
Galant öffnete er die Tür und ließ Jeannie Butsch einsteigen. Diese wurde von ihren drei Schwestern im Geiste freudig begrüßt und sogleich in das Gespräch miteinbezogen, welches sie mit der Anekdote bereicherte, dieser Schopenhauer lese tatsächlich «Die Welt» und höre auf den Vornamen «Willi».
Westwall fuhr an. Ihm war seltsam zumute. Da gondelte er mit vier der schönsten Frauen Deutschlands durch Hamburg, wusste drei Wagen mit zivilen Polizeibeamten hinter sich - und konnte doch das miese Gefühl nicht loswerden, dass irgend etwas schiefgehen würde.
Das Fernsehstudio lag am anderen Ende der Stadt. Westwall steuerte das LUDERMOBIL vorsichtig und sah in den Rückspiegel. Die drei Wagen waren da. Das beruhigte ihn. Er fuhr noch vorsichtiger und sah wieder in den Rückspiegel. Die Wagen waren verschwunden. Das beunruhigte ihn. Er entschloss sich, das LUDERMOBIL an den Straßenrand zu fahren und fernmündlich zu erkunden, was vorgefallen war. Er trat auf die Bremse. Sie reagierte nicht. Er schlug das Lenkrad leicht nach rechts ein. Es reagierte nicht. Der Wagen wurde wie von Geisterhand bewegt und bog an der nächsten Kreuzung in eine menschenleere Gegend, wo sich der größte Schlachthof der Stadt befand. Westwall ahnte, dass dies kein normaler Abend werden würde.
Zitat des Tages
«Aber ich bin doch sehr froh, das Buch (Agatha Christies "And then there were none") gelesen zu haben, weil es endgültig und für immer eine Frage ein meinem Kopf geklärt hat, bei der mich zumindest doch immer noch einige Zweifel bedrängten. Die Frage nämlich, ob es möglich ist, einen strikt ehrlichen Kriminalroman vom klassischen Typus zu schreiben. Es ist nicht möglich.»
(Raymond Chandler)
This day in crime history:
Song des Tages
AC/DC: Jailbreak