Ein sonderbarer Bus steuerte über das knirschende Eis der südlichen Heide durch die bitterkalte Nacht. Wer immer seiner ansichtig wurde, bekreuzigte sich und beschleunigte seinen Schritt, auf dass er rasch nach Hause hinter die sicheren Mauern der Heimstatt gelange und seinen Nachkommen bis ins fünfte Glied von der unheimlichen Begegnung würde erzählen können.
Um diesen Bus woben sich Mythen und Sagen, rankten sich Geschichten voller Schauder und Schauder voller Geschichten. Jeder kannte ihn, und wer die 60 überschritten hatte, fürchtete ihn auch. Denn hinter dem seit Jahrzehnten vor sich hin rostenden Blech unter der gelb-grünen Lackierung verbarg sich ein Projekt von besonderer Heimtücke, eine kulturelle Offensive von gigantisch perfidem Kalkül, kurz: Der Bus transportierte die Künstler der «Grufti Road Show» durch die Republik, von Altersheim zu Altersheim, von einem «Bunten Abend» zum nächsten, und heute saßen im idyllischen Bargfeld Krs. Celle 120 Insassen des «Arno-Schmidt-Seniorenstifts» auf den weichen Stühlen des Gemeinschaftsraumes und warteten, von vier Altenpflegerinnen mit entsicherten Kalaschnikows gut bewacht, auf Erscheinen und Wüten der Künstler.
Am Steuer des Fahrzeugs saß und pfiff heiter vor sich hin der Impresario des Unternehmens, ein windiger Ex-Bankrotteur namens Friedhelm Solz. Vor nunmehr drei Jahren - ein böses Geschick hatte Solz in die Obhut der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel gezwungen - las der immer um Geschäftsideen bemühte Häftling im Mitteilungsblatt der Anstalt folgende interessante Meldung:
«Amerikanische Wissenschaftler haben in einer groß angelegten Studie herausgefunden, dass ältere Menschen, welche man desöfteren schlechter Unterhaltung aussetzt, im Durchschnitt drei Jahre früher sterben als vergleichbare Ältere, die zum Amüsement das Lesen von Michael-Moore-Büchern und das Hören von Aerosmith-Alben bevorzugen.»
Wie ein ungehobener Schatz hatte diese unscheinbare Meldung in Solzens hirnähnlichem Kopfinhalt gelegen, bis sie sich eines Tages gülden strahlend aus ihrem Nichtsein erhob.
Es war bei einer jener Kaffeefahrten geschehen, die Solz nach Verbüßung seiner Haftstrafe zu organisieren begonnen hatte, um arglosen Verrenteten völlig überteuerte Familienpackungen unzuverlässiger Präservative zu verkaufen, die nur in Verbindung mit einer speziellen und ebenfalls im Solzschen Angebot vorhandenen Heizdecke zum Einsatz gebracht werden konnten. Zum Weichklopfen des Publikums war das bekannte Inzestduo Renate und Werner Lausmann engagiert worden, welches sich zwar schon seit Jahrzehnten aus Altersgründen nicht mehr an die Wäsche ging, doch noch immer die gleichen Lieder wie damals zum Besten gab. Solz beobachtete nun während der Darbietung ein sehr rares Phänomen: Bislang rüstige Rentner alterten von Song zu Song, laut lachende Rentnerinnen wurden depressiv und ehedem schlohweißes Haar wurde aschfahl.
Solz wäre nicht Solz gewesen, hätte er dieses Phänomen nicht sogleich mit der einst gelesenen Nachricht in Verbindung gebracht. Es traf also zu! Nur... konnte man Geld damit verdienen? Welchen Sinn konnte es machen, ein Dutzend verblühter Showgrößen zu einem Paket zu verschnüren? War die Existenz einer hinreichend großen Menge Mensch gehobenen Alters vorstellbar, die sich FREIWILLIG jenem Horror auszusetzen bereit wäre?
Solz grübelte. Es war der Zufall persönlich, der ihn die Bekanntschaft eines Herrn Neger machen ließ, seines Zeichens Beamter des gehobenen Dienstes im Bundesfinanzministerium. Dieser, von Solz anlässlich eines gemütlichen Beisammenseins beiläufig über die vage Idee informiert, horchte auf, grübelte solzenhaft und klatschte schließlich begeistert in die Hände.
«Das isses! Wenn du mit deiner Monstertour nur... sagen wir mal übern Daumen... eine Million Rentner erreichst und dafür sorgst, dass ... jetzt mal grob überschlagen... ein Zehntel davon ... also, auf die Schnelle gerechnet, Stücker 100.000 - ihr Ableben um ...wollen mal einen Mittelwert nehmen... zwei Jahre vorzieht, dann wären das ... Moment, mein Taschenrechner... aja... genau oder ungefähr 200.000 Rentenverbrauchsjahre, die unser Staat einsparen würde. Damit könnten wir die Neuverschuldung unter 3% drücken, und alles wäre wieder gut.»
Solz, dies vernehmend, war nun ebenfalls begeistert und klatschte in die Hände. «Dann könnten wir doch... jetzt nur mal so aus dem Stehgreif... zum Beispiel den Deal abschließen, dass ihr... das heißt: euer Ministerium oder irgendein EU-Fonds... meine Truppe mit... ich sag jetzt mal nur so ungefähr... genau 5000 Euro pro Veranstaltung bezuschusst, was bei einer mittleren Besucherzahl von... ich geh mal von einem unteren Mittelwert aus... 500 genau oder doch annähernd 10 Euro pro Person ausmachen würde. Aber...» - und Solz legte sein Gesicht in Sorgenfalten - «es gibt ein Problem dabei.»
«Und welches?», gierte es Neger zu wissen.
«Na, ganz einfach: Wo soll ich die 500 Leute herkriegen? Das klappt vielleicht beim ersten Mal, aber dann sind doch alle weiteren potentiellen Besucher gewarnt!»
«Ich denke, du überschätzt die geistige Verfassung unserer Ruheständler», gab Neger zu bedenken. «Wenn man... jetzt nur mal solala angenommen ... davon ausgeht, dass die Verdummbeutelung der Bevölkerung mit der Geburt beginnt und progressiv ansteigt, dann ist ein Zwanzigjähriger bereits zu ... ich wage die Zahl... 30% verdummbeutelt, ein Vierzigjähriger aber schon zu 73%, ein Sechzigjähriger zu 120% und ein 74jähriger... und selbst wenn du Recht hättest: Wir lassen die Veranstaltungen einfach in den staatlichen Seniorenheimen stattfinden, wo wir quasi die Oberhoheit über den Willen der Alten haben. Notfalls frag ich mal beim Verteidigungsministerium an , ob von denen noch aus Beständen der Volksarmee der ehemaligen DDR eine Kiste Kalaschnikows abgegeben werden könnte.»
Und so geschah es.
Dreizehn Menschen hockten also, teils schläfrig, teils sinnierend, teils von Dezennien ehrlicher Arbeit verbraucht, teils munter wie die jungen Füllen, hinter dem noch immer pfeifenden Solz, der seinen Bus jetzt gen Eldingen lenkte, wo er in der Ortsmitte die Abzweigung nach Bargfeld nicht verpassen durfte. Es waren dies neben den Geschwistern Lausmann folgende verdiente Künstler:
THE ORIGINAL UNTERKRAUTLINGER: In den 60er Jahren bekannt geworden durch ihr Triple-Album «The Vico Torriani Sessions featuring Johannes Heesters», eine revolutionäre Mischung aus Almjodeln, progressive Kraut-Art-Rock und bretonischer Folklore, das alles auf einer soliden Mississippi-Delta-Blues-Grundlage. Das «Power-Quartett» (SPIEGEL) tourte sowohl durch die USA als auch den westpfälzischen Teil der deutschen Weinstraße und konnte sich eine große Fangemeinde aufbauen, die allerdings 1987 im Alter von 61 Jahren starb. Ihre unbestrittene Fähigkeit, das Publikum zu paralysieren, d.h. in einen Zustand der Körperstarre zu versetzen, macht THE ORIGINAL UNTERKRAUTLINGER zum idealen Opener der «Grufti Road Show». Danach ist kein Zuschauer mehr zu Fluchtversuchen (und sei es mit dem LIFTA TREPPENLIFT) fähig.
NELKE LEICHENKLEID: aus Funk und Fernsehen bekannte Bücher- und Pferdeflüstererin. Vermag es, selbst dem ödesten Softcover «ein Ohr abzuflüstern» (BILD). Nachdem sie zwanzig Minuten lang auf ein beliebiges Druckwerk eingesprochen hat, beginnt dieses zu antworten. Natürlich hört nur Nelke selbst, was das Buch sagt. Sie ist quasi das Medium zwischen Druckerschwärze und Publikum, sie hört auch das «zwischen den Zeilen» und «jenseits des Alphabets». Hat sie alles erzählt, was ihr das Büchlein geflüstert hat (was zwischen drei und vier Stunden dauern kann, im Rahmen der «Grufti Road Show» jedoch auf noch immer unerträgliche zehn Minuten reduziert wurde), ruft sie: «Und jetzt bringt mir das Pferd!». Gottlob ist das Pferd vor fünf Monaten bei einem Auftritt im Fichtelgebirge verstorben.
SEBASTIAN WILLI: Engagierter Liedermacher mit sozialkritischem Impetus. «So klänge Bob Dylan, wenn er deutsch, bescheuert und impotent wäre», rühmte einst die FAZ diesen exorbitanten Bezwinger des Endreims («Der Neger lebt im Kral / Ja, ist das noch sozial? / Doch lebte er im Plattenbau / fänd er wohl keine Negerfrau.»).
MARIKKA LEANDER UND HANS ALBERN: ehemaliges UFA-Traumpaar und Lieblingsschauspieler des «Führers». Trotz ihrer zusammen 200 Jahre noch immer «ein Genuss für Auge und Ohr» (SINNLOS – ZEITSCHRIFT FÜR BLINDE UND TAUBE). Wie Marikka, neckisch im rosa Negligé, Albern umgarnt, das lässt wieder einmal die Epoche lebendig werden, da Paris noch deutsch und Stalingrad leider schon wieder russisch war.
DIETMAR KATZ: Ex-Arbeitgeberpräsident. Quasi das volksbildnerische Element der «Grufti Road Show». Berichtet in drastischen und wahren Worten vom Elend des arbeitgebenden Teils der deutschen Bevölkerung, liefert spannende Live-Reportagen aus den Slums der Ritter des Zinseszins und warnt leidenschaftlich vor den Folgen des Irrglaubens, alle Menschen bräuchten satt zu essen. Ein aufwühlender Beitrag zum Thema «Lebenslanges Lernen».
CABINE CHRISTIAN: Namensvetterin einer bekannten Talkshowgröße aus längst vergangenen Zeiten, ehemalige Klofrau im Berliner Regierungsviertel. Hat den kürzesten Auftritt von allen Stars. Solz ruft sie in seiner Eigenschaft als Conferencier mit der Ankündigung «Und jetzt - Cabine Christian!» auf die Bühne, C.C. verbeugt sich vor dem müden Applaus und geht wieder ab.
Außer diesem Dutzend formidabler Weltstars befand sich, diskret in die hinterste Sitzbank gefläzt, noch ein eher unbekannter, wenngleich bedeutender Mensch in Solzens Bus: der Ministerialdirektor a.D. Hubert Bannke, ein Spezialist für gerontologische Prozesse, dem es oblag, die Wirkung des Hammer-Entertainments auf die Klientele zu begutachten und wissenschaftlich hieb- und stichfest festzuhalten.
Bannke besaß einen untrüglichen Blick für Alterungsprozesse, doch am liebsten waren ihm, der einst der «Effizienz-AG» des Sozialministeriums angehört hatte, die klaren Fälle, d.h. das sofortige Ableben von Teilen des Publikums während des Vortrags. Eine von ihm aus reiner Liebhaberei geführte Hitliste sah hier Nelke Leichenkleid als Exitus-Auslöserin vorne, dicht gefolgt von Dietmar Katz und Sebastian Willi.
Endlich war Eldingen erreicht, die Abfahrt nach Bargfeld genommen, nur noch zwei Kilometer trennten die Entourage vom diesmaligen Festpublikum, welches seinerseits schon beim alleinigen Gedanken an die nähere Zukunft progressiv zu altern begonnen hatte.
Solz pfiff noch immer fröhlich. Die Scheinwerfer des Busses warfen Lichtflecken in das übliche Einerlei der Südheide, das Eis glitzerte gefährlich, doch Solz lenkte sein Gefährt mit der Routine eines Mannes, der wusste, dass auch am Ende dieses Tages Herr Reibach persönlich auf ihn wartete.
Dann kam, sehr plötzlich, Nebel auf. Alle Stimmen klangen, als kämen sie durch mit Chloroform getränkte Watte hindurch in den Solzschen Gehörgang.
Natürlich gab es weder Nebel noch Watte. Es gab ein leises, zischendes Geräusch, soviel steht fest. Etwas entkam einem sehr dünnen und sehr verborgenen Schlauch im Innern des Busses. Aber das waren Fakten, die Solz nicht mehr interessierten. Sein Kopf neigte sich nach vorn, fiel auf die Brust und diese auf den Lenker. Der Bus brach abrupt nach rechts aus, blieb jedoch auf der Straße, passierte den Ortseingang Bargfeld mit hoher Geschwindigkeit, rumpelte auf den Dorfplatz und krachte dort gegen das Kriegerdenkmal, Weltkrieg I und Weltkrieg II, mit genügend Platz auf dem Stein für den nächsten Waffengang.
Der Detonation folgte ein sauberer Feuerball, der Örtlichkeit vollkommen angemessen und noch zwanzig Meter weiter, im Gemeinschaftsraum des «Arno-Schmidts-Seniorenstifts» hörbar, dessen Bewohner in diesem Augenblick um die einmalige Gelegenheit gebracht worden waren, dieses irdische Jammertal vorzeitig auf Bewährung verlassen zu dürfen.
Zitat des Tages
»Ein Star zu sein ermöglichte es mir, an Orten beleidigt zu werden, wo der durchschnittliche Neger niemals hoffen konnte, beleidigt zu werden.«
(Sammy Davis jr.)
This day in crime history:
1989 starb der französische Regisseur Bernard Blier ("Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh").
Song des Tages
Boomtown Rats: I don't like Mondays
»Tell me why.
I Dont't like Mondays.
I want to shoot.
The whole day down.«