Zahlenspielereien, dachte Rühhoff und stierte auf das bekritzelte Papier vor sich. 1,2,3,4 - und dann, warum nur, 14. Wieder Helden der untersten Unterhaltungsschublade, das ja, aber 14?
Rühhoffs spontane Mutmaßung, der unheimliche Mörder habe nun begonnen, mit der gesetzmäßigen Zahlenkette zu spielen, deren erste und letzte Zahl, 1 und 4, zusammen zu setzen, um die Anzahl der Opfer seines nächsten Anschlags zu ermitteln, diese Mutmaßung also war nicht von der Hand zu weisen. Nahm man sie ernst, war als nächste Zahl die 23 heißester Kandidat. Oder die 32? Auch das schien möglich. Jedenfalls würde es für den Killer immer schwerer werden, so viele potentielle Opfer auf einem Haufen vorzufinden und in die ewigen Jagdgründe befördern zu können...
Dass Rühhoff auf das Papier starrte, hatte jedoch nichts mehr mit dieser tödlichen Mathematik zu tun. Ihn beschäftigte etwas anderes, eine kurze, nur eine Sekunde dauernde Szene, damals beim Auf- und finalen Abtritt der schrecklichen Vier von «Deutschland pfeift auf den Superstar». Dieser Mann war ihm entgegengekommen, als er den Saal betreten hatte. Er hatte ihn erkannt. Ein sofortiges «Das ist doch...» - und danach: nichts mehr. Nur eine Ahnung. Eine Gewissheit ohne konkrete Zuordnung.
Rühhof seufzte. Er neigte nicht zum Selbstmitleid - jedenfalls nicht ohne Grund. Und dieser Grund hieß WM, der mitleidlose Chefredakteur von HINTERLETZT, der seinem neuen Mitarbeiter, von einer jovialen Umarmung begleitet, aufgetragen hatte: «So, mein Bester. Jetzt schreiben Sie erst ma'n paar Rezensionen zum Warmwerden. Hier hab ich zum Beispiel einen unglaublich spannenden ‚Saarland Krimi', den sie in höchsten Tönen loben können. Und dann - na, dann schreiben Sie selber einen! Fortsetzungsroman für HINTERLETZT! Mit Multimedialschwurbel! Könn' se doch! Ich seh schon den Titel vor mir - DIE NACHT ALS DIETMAR DIELEN STARB - SO WAR ES WIRKLICH!!! Materie is' Ihn' ja vertraut, wa? Bisschen lügen können Sie auch, war'n ja mal bei der TEXT-Zeitung. Und - die Umklammerung wurde eisern - «niemals vergessen: SEX SELLS!»
Als er das Fenster schloss, konnte er sich ein zufriedenes Lachen (hörte ja keiner) nicht verkneifen. Lang lebe das Internet! Lang lebe die Informationsfreiheit! Lang - aber halt: Er machte einen Fehler. War er privat, musste es heißen: Lang lebe das Internet, wenn ICH es nutze! Lang lebe die Informationsfreiheit, wenn ICH sie mir nehme. Das andere war verkürzter Senf, wie er zu sagen pflegte. Smalltalk für die Öffentlichkeit, die ihn zwar nicht beachtete, aber seine Worte, als kämen sie aus dem Nichts, aufsog und interpretierte. Dummes Volk, das!
Er summte die Zahl vor sich hin wie ein Mantra mit Haschischgeschmack: Achtmillionen - einhundertvierundsiebzig - tausend - siebenhundert - vierundsechzig. Die aktuelle Zahl aus dem Internet. Prima! Wieder mehr! Nicht viel, aber immerhin. Sie stiegen also doch ab und zu noch in die Kiste und verrichteten das, was zivilisierte Menschen Kindermachen nennen. Diese, diese... Ach, was! Er musste sich beruhigen. Ein Besuch hatte sich angemeldet. Irgend so einer, den er nicht verstand. Er verstand niemanden, und niemand verstand ihn. Sie sahen an ihm vorbei, wenn sie mit ihm redeten, sahen durch ihn hindurch auf die getäfelte Wand mit den kotzigen Gemälden moderner Kunst, die er verabscheute, gegen die er sich aber nicht wehren konnte. Mimikry. Alles Mimikry. Ein kunstsinniger Mensch, weltoffen, modern, um die Ecke denkend, abstrakt und konkret zugleich: so sah man ihn. Ein Luftbild, denn in Wirklichkeit war er in seinem tiefsten Wesen unsichtbar. Achtmillionen (Schnalzen mit der Zunge) - einhundertvierundsiebzig (jajaja!) - tausend (boah!) - siebenhundert (ha!) - vierundsechzig (naja).
Ich kenne ihn, überlegte Rühhoff. Er ist es. Aber wer? Er hatte das bekritzelte Stück Papier mit den Zahlen zerknüllt und in den Papierkorb geworfen. Sich ein neues, ganz weißes und unschuldiges Stück Papier aus der Schublade genommen, auf das er nun starrte, einen Kugelschreiber nervös und unschlüssig in der Rechten drehend. Dann begann er zu schreiben.
«Frau Stefania Dielen war an diesem Morgen alleine in ihrem Bett erwacht. Sinnierend und schlaftrunken betrachtete sie den leeren Platz neben sich, das unberührte weiße Laken und das...»
Er warf den Kugelschreiber auf das Papier und seinen Kopf gleich hinterher.
Er lehnte sich zufrieden zurück und betrachtete den Monitor. Microsoft-Grün, ein einsamer Ordner auf dem Desktop. Abermals öffnete er den Browser.
Ha! Sie schrieben jetzt sogar schon über ihn! Geschmeichelt strich er sich durch sein volles Haar. Immerhin auf HINTERLETZT, seinem liebsten Internetportal für gute Musik, gute Literatur und gute Laune. Er kannte alle Kolumnen von Fräulein Katja auswendig, und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, tagträumte er von ihr. Wenn sie so aussieht wie sie schreibt, dann wäre sie die richtige für ihn. Er stand auf missgebildete Frauen, da war ein gewisser Schuss Perversion nicht zu leugnen, und wenn sie jetzt noch, sagen wir bei Rowohlt, ihre Kolumnen in Romanform veröffentlichen würde... es wäre die Krönung.
BALD!!! HIER!!! WAHR!!! SPANNEND!!! SEX & CRIME & SOZIALKRITIK!!!
Das war ihm etwas zu marktschreierisch, zugegeben. Und dieser Rühhoff, diese Flasche, erdreistete sich, SEINE Geschichte zu erzählen! Wollte ihn reinlegen! Tz! ... Ob er... Vielleicht... Er kicherte wie ein kleines Kind, das Leim auf den Lehrerstuhl streicht. Natürlich, das war ein Spaß!
Er klickte auf «Schreiben Sie dem Autor», das Email-Programm öffnete sich. Er musste nicht lange überlegen und schrieb, wobei er sich vor Lachen kaum noch halten konnte:
«Als nächstes stirbt die 7c, und zwar VOR und NACH Christus! Herzlichst: der Promikiller. P.S.: Und damit Sie auch glauben, dass dies kein Scherz ist: Die 14 Volltrottel im Bus habe ich mit Lachgas betäubt. Fragen Sie die Polizei, die wird es Ihnen bestätigen!»
Nein, er brauchte es nicht nachzuprüfen: So schrieb nur ein vollständig böser, ein total durchgeknallter Mensch, in dessen Gewissen auch 24 Leichen keine große Sache waren. Aber was meinte er damit?
ALS NÄCHSTES STIRBT DIE 7C, UND ZWAR VOR UND NACH CHRISTUS!
Rätselhaft. Rühhoff wusste: Wenn ich diesen Code knacke (denn es war ein Code, gar kein Zweifel!), habe ich den Schleier gelüftet. Dann werde ich berühmt. Reich. Unsterblich. Jetzt lachte auch er.
Doch wer war die 7c? Wollte sich der Killer jetzt gar an Schulkindern vergreifen? Wo bestand die Verbindung zwischen Schulkindern und abgetakelten Prominenten?
7? Das war die Hälfte von 14, der Zahl der Opfer des letzten Attentats. C? Vielleicht 10? Oder die römische Ziffer für 100. Also 107? Oder 7 mal 100 gleich 700? Und was war mit «vor und nach Christus?» War damit das aktuelle Jahr 2024 gemeint, quasi doppelt, also 4048 plus 700 = 4748?
Wieder war ein Stück Papier bekritzelt, wieder stöhnte Rühhoff und zerknüllte die nutzlose Rechnung. Er startete seinen Rechner, wählte sich ins Netz, googelte. 4748. 236000 Treffer. Es war sinnlos. So furchtbar sinnlos.
Er ging zum Fenster und sah in die blinkende Vorweihnachtszeit, die morgen, wenn der Weltterrortag endlich stattfände, beendet wäre. Fünfzigjährige finden YES- und GENESIS-CDs unterm Christbaum, Teenager werden mit «pädagogisch wertvollen Aufklärungsbüchern» traktiert, in denen bumsen «poppen» heißt.
Rühhoff seufzte. Irgendjemand müsste den Antrag stellen, Weihnachten «Al Quaida Fest» zu nennen und Bin Laden in die Krippe zu hauen.
Es hing nicht nur Weihnachtsschmuck in den Straßen. Auch die aufdringlichen Plakate, welche für «die Olympischen Spiele der ekligsten Sportarten» warben, verhängten die Fassaden. Die bedeutendste Veranstaltung des Jahres, und keine Sportart konnte eklig genug zu sein um zu verhindern, dass Deutsche darin reüssieren würden. Popelzielwerfen; 10-Meter-Pinkeln auf die laufende Scheibe; Hochleistungsschwitzen. Und; so; weiter. Es wird schrecklich werden, wusste Rühhoff.
Aber es half ja alles nichts. Auch ein Genie braucht Brot, und wenn's schnöder Kaviar ist. So schlich er zurück an seinen Schreibtisch. Es war höchst unprofessionell, gleich mit dem Schreiben zu beginnen. Ein Plan musste her, genaue Charaktisierungen der handelnden Personen. Dieser Commissario beispielsweise. Wie brachte der seinen Hormonhaushalt in Ordnung? War ein weibliches (oder männliches? Nein, schwul war Krawuttke wohl nicht.) Wesen denkbar, das Auge in Auge mit dem nackten Kriminalbeamten etwas anderes als Ekel empfinden konnte? Eine Blinde, klar. Eine, die dafür bezahlt wurde, auch das möglich.
Rühhoff lächelte bei dem Gedanken, dass er seine dichterische Freiheit dazu missbrauchen konnte, Krawuttke die gefährliche Illusion einzuimpfen, eine bezaubernde Frau interessiere sich für ihn. Gar die bezaubernde Stefania Dielen? Wunderbar! Er lächelte finster und malte sich in Gedanken aus, mit welch grandiosen Worten er den Aufprall des wabernden Beamtenfleisches auf die empfindliche Haut der jungen Witwe beschreiben würde. Für den Nobelpreis würde es zwar wieder nicht reichen, aber einen tumben Chefredakteur konnte man mit solcher Action ohne Weiteres zufriedenstellen.
An Weiterschreiben war aber nicht zu denken. In Rühhoffs Gehirn paradierten durchgeknallte Zahlenreihen: 1,2,3,4 - 14. Immer wieder: 1,2,3,4 - 14. Und jene kryptische Weissagung des Monsters von der 7c. Er war der Lösung sehr nahe, doch noch fehlte ein winziger Schritt.
Zitat des Tages
»Ein Star zu sein ermöglichte es mir, an Orten beleidigt zu werden, wo der durchschnittliche Neger niemals hoffen konnte, beleidigt zu werden.«
(Sammy Davis jr.)
This day in crime history:
1989 starb der französische Regisseur Bernard Blier ("Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh").
Song des Tages
Boomtown Rats: I don't like Mondays
»Tell me why.
I Dont't like Mondays.
I want to shoot.
The whole day down.«