´68 – Design und Alltagskultur zwischen Konsum und Konflikt

Wer die ´68er Ausstellung im Düsseldorfer Kunstmuseum verpaßt hat, hat vor allem eines verpaßt: das finnische Kunststoffhaus „Futuro“, ursprünglich als Après-Ski-Hütte im Sci-Fi-Look konzipiert. Es sieht aus wie eine fliegende Untertasse, hat 8 m Durchmesser, rundum Bullaugen, steht auf drei Beinen und ist wie ein Flugzeug über eine herunterklappbare Treppe zu besteigen. Genau: zu besteigen! Was man sonst nur (nachsichtig grinsend) in Dokumentationen über die gute alte Zeit der Zukunftseuphorie zu Gesicht bekommt, konnte man in Düsseldorf in der Tat begehen! Innen gab´s einen Wohnraum, gestaltet wie die Kommandozentrale eines Raumschiffs, zwei Schlafkojen und tatsächlich – Bad und Küche! Wer das architektonische Kleinod nicht live erlebt hat, dem sei zum Trost verraten: die Zukunft roch verdammt muffig!

Eine Abbildung des sagenhaften „Futuro“ gibt´s auch auf Seite 73 im Katalog zur Ausstellung: „´68 – Design und Alltagskultur zwischen Konsum und Konflikt“.

Wir schreiben das Jubiläumsjahr zweier unvollendet gebliebener Revolutionen (1848 und 1968), beide längst zu vielschichtigen Mythen erstarrt, aus denen sich jeder bei Bedarf sein Stückchen herauspickt, und im Fall der ´68er-Revolte ist es hier also die Gebrauchskunst: Design, Mode, Werbung und Grafik. Der Katalog präsentiert anschaulich die Exponate der Ausstellung (DuMont ist in Sachen Grafik immer eine gute Adresse!) sowie eine Reihe von Aufsätzen und Interviews mit den damaligen Akteuren.

Sixties und Seventies feiern fröhliche Urständ in Kleidung, Musik und Kunst-Retrospektiven, doch ob es sich dabei nur um formale Übernahmen handelt oder wirklich mehr dahintersteckt, ist noch zu klären. Die Tatsache, daß zur Zeit weniger Design-Novitäten als die Aufarbeitung zurückliegender Erscheinungen und Theorien im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, ist auch für die Analyse der Gegenwart interessant.

Die 60er Jahre zeichneten sich im Westen durch einen unglaublichen, fast naiven Optimismus aus. Dieses Vertrauen in die eigene Macht ist es wohl auch, das sie in heutigen Zeiten der Orientierungslosigkeit und Verunsicherung so anziehend macht.

Doch auch Unruhe, Protest und Diskussionen sorgten für Schlagzeilen, und die Kritik an den herrschenden Zuständen artikulierte sich in gezielten, wenngleich begrenzten Tabuverletzungen. Ausgangspunkt war eine Gruppe, die man erst seitdem als solche wahrnahm: die JUGEND! Jugendliche waren nicht länger nur „junge Leute“ und Miniaturabbildungen ihrer Eltern, sondern eine eigenständige soziale Klasse mit spezifischem Potential und eigener Faszinationskraft (von der Kaufkraft gar nicht zu reden…), die nun auch auf andere Schichten abstrahlte: Jugendlichkeit wurde zum Wert schlechthin und die Jugend ´67 vom „Time“-Magazin gar zur „Persönlichkeit des Jahres“ gekürt. Erwachsenenwelt, Establishment und Industrie schickten sich an, die neuen Errungenschaften zu übernehmen und vom Protest in Profit umzumünzen! Nicht zuletzt auf diese Weise wurde der Bewegung das Wasser abgegraben, und jugendliche Freaks hatten es fortan immer schwerer, ihre Umwelt zu brüskieren.
Wie aber wirkten sich die ´68er ästhetisch aus? Vor allem in einem wilden Crossover aus High und Low, aus Subkultur und etablierter Kultur, aus provozierendem Underground und avancierter Hochkultur. Letzten Endes wurde jedoch alles Alternative vom Mainstream aufgesaugt und entschärft.

Impulse gaben wieder die „Jugendlichen“ von der „Straße“ – in Wirklichkeit Studenten und Hippies. Die Flower Power-Kids hüllten sich in ein modisches Allerlei aus Romantik und Exotik, Stoffe in allen Regenbogenfarben und Mustern, bestickte Blusen und Westen, Ethno-Kleidung kombiniert mit Schals, Mützen etc., und an den Füßen Mokassins, Stiefel, Sandalen – oder gar nichts! Auf den Köpfen wucherte es: lange Haare und Bärte brachen sich Bahn, wo jahrzehntelang mit den Eltern um jeden Zentimeter gefeilscht wurde. Die Silhouetten der Geschlechter glichen sich zunehmend an. Und blickt man übrigens zurück in die ikonografische Historie dieses Symbols, stolpert man über jede Menge langhaariger Rebellen, von Absalom (einem Sohn König Davids, der dummerweise beim Ritt auf der Flucht vor den Feinden mit seinem Kopf in einem Baum hängenblieb, während sein Gaul weitergaloppierte…) über Meier Helmbrecht, den Struwwelpeter etc. bis hin zu Langhans (!) und Co.

Auch neue Wohnformen hielten mit den ´68ern Einzug, vor allem Kommunen und WGs (mit dem Symbol unkonventionellen Wohnens schlechthin: der WG-Matratze). Was immer sich an Möglichem aber letztlich durchsetzte, hing mit den herrschenden sozialen Bedingungen zusammen. Das Infragestellen von Autoritäten durch die Protestbewegung führte zu einer Lockerung der Umgangsformen und einem gelösteren Wohnstil. Das Sitzen tendierte zum Liegen, man konnte die Füße ungeniert von sich strecken oder hochlegen. Der Boden war Geh-, Sitz- und Liegefläche in einem, und manche sahen gar die Geselligkeit des alten Roms wieder herannahen.

Die sexuelle Revolution hatte also ihr lebensräumliches Pendant in einer vertikalen Verschiebung nach unten! Die Wohnzone „unterhalb der Gürtellinie“ lag zwischen Kniehöhe und Fußboden, denn dahin sanken Sitz- und Liegeflächen: ideal für Leute mit Hang zum Gammeln, Lümmeln, Fleetzen etc. – „langhaarige Affen“ eben!

Scharfe Kanten verschwanden, die konstruktorische Trennnung von Gestell und Sitzfläche entfiel, Sessel wurden nun zu wulstigen Lederballen. Polstersessel auf fahrbaren Rundsockeln waren mit dreh- und kippbaren Oberteilen versehen, überdimensionale Plastikeier mit Sitzmulden evozierten neuartige, „undisziplinierte“ Sitzhaltungen und ermöglichten die Kunst, den Platz zu wechseln, ohne aufzustehen.

Ermöglicht wurde der Umbruch im Design nicht zuletzt auch durch technische Innovationen in Form neuer synthetischer Materalien („plastic revolution“). Diese Kunststoffe waren leicht und transparent, preiswert herstellbar, einfach zu verarbeiten und ermöglichten einen zuvor undenkbaren Formenreichtum, der auf die organische Beschaffenheit des Benutzers einging und sich dem menschlichen Körper anpaßte, statt ihn zu disziplinieren. Verkehrte Welt?! Der legendäre, mit Styroporkügelchen gefüllte Sitzsack (damals auch als „Nicht-Sessel“ tituliert!) ist das Paradebeispiel dieser Entwicklung.

Plastik also, wohin das Auge sah. In Südtirol entstand eine komplette Disco-Einrichtung aus transparentem und fluoreszierendem Plexiglas; Schaumstoff war die Keimzelle der Polster-Landschaften (WG-Matratze!) und skurriler Hingucker wie dem „Grasmöbel“ aus beweglichen Schaumstoffhalmen oder einem Säulen-Bruchstück im Antik-Look zum Draufsetzen etc. Aufblasbare PVC-Möbel (Pneus, Blows, Puffs) verwirklichten den alten Traum vom Sitzen auf einer Luftsäule. Es existierten sogar ganze aufblasbare Wohnkugeln und Appartments. Ein Königreich für eine Nadel…

Aus der Tube gepreßte Möbel sollten der Individualität und Mobilität die Krone aufsetzen. Gedacht war das so: zum heimischen Grillen quillt der Gastgeber vor Eintreffen der Gäste kurz mal ein paar Sitzgelegenheiten auf den Rasen, die anschließend gemeinsam mit dem Einweg-Partygeschirr entsorgt werden. Wer zweimal auf demselben Sessel sitzt…

Nicht ganz so modernistisch nahmen sich faltbare Möbel aus Pappe aus, doch auch sie entsprachen dem Zeitgeist: viel Möbel für wenig Geld. Man kann darüber streiten, ob die kurzlebigen Wegwerfmöbel aus verschleißfreudigen Materialien letztlich nur den Konsum ankurbeln sollten oder in Opposition zum Einrichtungs-Luxus standen, etabliertes Wohnen infrage stellten und adäquate Reaktion auf eine schnellebige, wandelbare Zeit waren. Der Boom der Synthetik-Materialien fand jedoch ein jähes Ende mit der Rohstoffknappheit und der Ölkrise Anfang der 70er, die Öko-Hysterie tat ein übriges und mündete schließlich in den Run auf vermeintlich naturbelassene („nur“ mit Kunststoff beschichtete und hochgiftigen Stoffen imprägnierte) Holzmöbel einer schwedischen Einrichtungskette…

Die Zeit des poppigen „everything goes“ war übrigens auch die Geburtsstunde skulptur-ähnlicher, aus einem Guß gefertigter Plastikmöbel. Ein Klassiker unter ihnen war der „Floris“-Stuhl von 1967, basierend auf ergonomisch-statischem Kalkül und einer Vorliebe für geschwungene Formen. Er ermöglichte entspanntes Sitzen und dezentes Federn, beugte durch eingekerbte Belüftungskanäle unangenehmem Schwitzen vor und war problemlos stapelbar. Die Oberfläche avanvierte nun zum autonomen ästhetischen Element, abzulesen auch am „Uten-Silo“, der etwas anderen Pinnwand, einem Organizer für Krimskrams (oder wie es die Erfinder nannten: für „kleine, wilde Dinge“) in Form einer Plastikplatte mit „Taschen“, oder auch an Plastikschreibtischen mit Reliefstruktur (viel Spaß beim Abstauben!).

Transparenz, Kombinationsfähigkeit und Mobilität waren Ausdruck neuer Flexibilität. Dafür standen aufblasbare Sessel, Papp-Möbel und bewegliche Sitzlandschaften aus Polster-Elementen gleichermaßen, ebenso Konstruktionen aus (mittels Klammern beliebig zusammensetzbaren) Röhren und Regale aus stapelbaren Holzschachteln. Sitz-Liege-Möbel mit verstellbaren Klappgestellen sie sollten ungewöhnliche Körperhaltungen ermöglichen und den Blick auf üblicherweise nicht wahrgenommene Raumausschnitte lenken.

Mit dem Systemgedanken (Schrankwände und Möbel aus kombinierbaren Basiseinheiten) ging umgekehrt ein ausgeprägtes Ganzheitsdenken einher. Die klassische Trennung von Wohnungen in einzelne Zimmer mit Wänden sollte aufgehoben werden, der neue Mensch lag auf einer einzigen Polsterfläche, Fernseher und Bücherregal waren unter der Decke montiert – und der Mensch der Zukunft wahrscheinlich längst von herabstürzenden Lektürebeständen erschlagen… Ähnliche Gesamtkunstwerke waren geschäumten Kunststoff-Wohnhöhlen mit zahllosen Wellen, Wölbungen und Einbuchtungen in schillernden Farben, versehen mit verhüllten Lichtquellen und versteckten Lautsprechern.

Boden, Wände und Decke wurden also ununterscheidbar, Raum und Einrichtung verschmolzen, Sitzen und Liegen wurde eins. Sämtliche Flächen schoben sich in den Raum hinein, Wohnzellen und Einraum-Konzepte hatten Hochkonjunktur.

Die verwirrende Fülle neuer, zumeist runder, weicher Formen, vor allem aber die hermetische Abgeschlossenheit gegenüber Außenwelt und Tageslicht waren allerdings auch verdächtig: stand hier der neuen Offenheit die organische Abschottung gegenüber? Stichwort „Uterus“, Geburt, Natur, Privatheit… Das roch nach Urängsten, Flucht und Regression. Moderne, künstliche Materialien und archaisches Naturgefühl, Dynamik und Flexibilität versus Ruhe und Entspannung – Widersprüche über Widersprüche!

Unterm Strich ist die damaligen Aufbruchstimmung nicht zu leugnen, verkrustete Wohnstrukturen sollten bewußt aufgebrochen werden. Eine Wohnmesse präsentierte ihrerzeit einen leeren, grauen Raum, in dem eine Kinderstimme vom Band die Umgebung beschrieb. Jeder war aufgefordert, sich seine eigene Vorstellung machen, um hernach uneingeschüchtert und individuell zu gestalten: „Wohnen ist so einfach“!?

Zurück ins „Damals“: unentbehrliche Wohn-Accessoires waren überdimensionale Schreibtischlampen und Glühbirnen oder bunten Pillen nachgebildete Leuchten, sogar aufblasbare Deckenlampen mit Neonröhren gab es, ebenso wie solche aus einem Wust von tischtennisballgroßen, farbigen Plastikbällchen.

Geräte erstrahlten in den üblichen (widerlichen) Farben Rot, Gelb und Orange, Geschirr in Grün und Braun, Radios hießen „Alpha“, „Murphy Scene One“ oder „Pop 70“. Stereogeräte hatten ausklappbare Boxen, Würfelradios ließen sich auseinanderschieben, und die elektronischen Tischuhren gaben beim Spielen (ich spreche aus eigener kindlicher Erfahrung) erstklassige Raumschiff-Amaturen ab. Mancher wird sie noch in leidvoller Erinnerung haben, denn die Täfelchen der Ziffernanzeige lösten bei jedem Umklappen ein mittleres Erdbeben aus, und nachts schnauften die Dinger wie eine Herde vorbeitrampelnder Büffel.

All diese Errungenschaften setzten ein Metier voraus, das mit dem Kapitalismus aufgekommen war, sich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich etablieren konnte und nun wahrlich dringend gebraucht wurde: die Werbung (damals noch als „Rekame“).

Nach den Jahren des Wirtschaftswunders, als sich alles wie von selbst verkaufte, erforderte die Absatzkrise ´66/´67 in Übersee und Europa jetzt neue Absatz-Strategien. „Marketing“ hieß das Zauberwort, kam natürlich aus den USA und meinte soviel wie: vom Verbraucher her denken und dessen Vorstellungen in Produkte umsetzen. Es begann die Zeit der Lifestyle-Werbung (zuerst bei den Zigaretten), die in erster Linie Welten inszenierte und um´s Produkt herum Geschichten erzählte.

Erstanschaffungen reichten plötzlich nicht mehr aus, die Industrie propagierte den Wechsel um seiner selbst willen, um „auf der Höhe der Zeit“ zu bleiben. Und da die Jugend naturgemäß immer anders sein will als die Altvordern, hakte die Werbung hier beglückt ein! Allerdings stand sie (wie auch die Designer) besonders im Nachkriegs-Deutschland, bedingt durch die Rolle der Propagande im Nazi-Regime, noch unter totalem Ideologieverdacht, und die theoriefreudigen ´68er hielten sie im unerbittlichen Klammergriff des allgegenwärtigen Diskurses („Hauptsache, wir haben mal drüber geredet, Du!“). Begriffe wie „Geheime Verführer“, „Konsumterror“, und „Massenkultur“ – damals in aller Munde – zeugen vom Igitt-Stigma, oder wie es ein Zeitgenosse formulierte: „Ich sage meiner Mutter lieber, daß ich als Pianist in einem Bordell arbeite als daß ich in der Werbung bin“.

Doch auch Kaufhausbrände und Anti-Bild-Kampagne konnten den Siegeszug der Werbung nicht stoppen, und mit Charles Wilp, der Nonnen in den „Afri Cola“-Rausch versetzte, machte sich erstmals ein Vertreter des bis dato unsichtbaren Berufsstand als Person einen Namen in der Öffentlichkeit. Ein Tabubruch, der sofort die Konkurrenz auf den Plan rief, die scheinheilig moralische Mängel des Spots beanstandete und darauf verwies, der Name des Auftraggebers sollte sich den Verbrauchern einschreiben, nicht der des ausführenden Elements.

Im Zuge der Lifestyle-Werbung wurde auch das Design wichtig, denn die Produkte hoben sich meist nur noch durch ihre Form voneinander ab, und das täglich´ Brot der meisten Designer hieß „Produktdifferenzierung“: in realiter baugleiche Maschinen waren durch verschiedene Klebeleisten und Knöpfchen als Markenartikel identifizierbar zu machen.

Das Grafikdesign durchlebte einen Bedeutungswandel und wurde vom Funktions- zum Imageträger, Kreative waren meist nur noch Bildlieferanten für Marketingspezialisten. Die Standes-Elite schlug sich derweil mit ethischen Problemen (Designer = Kapitalisten?) und dem Verhältnis von Form und Funktion ´rum. Die Frage ging letztlich aus wie das Hornbacher Schießen, doch jeder hatte eine Antwort parat. Mindestens eine.

Noch ein Wort zur Mode, die den Zipfel der vorbeieilenden Hippie-Zeit rasch aufgriff, den Stilmix kommerzialisierte und das arrogant-ignorante Paris darüber arg ins Wanken brachte. Einzig André Courrège mit seinem schnörkellosen, geometrischen Astro-Stil, Paco Rabanne mit seinen aus Alu-Platten-Kleidern und Pierre Cardin griffen die Impulse vorbehaltlos auf und ließen sich als „Yé-Yé“-Schule (vom britischen „Yeah Yeah“ abgeleitet) verspotten.

Die ´68er etablierten freiere, ungezwungene Kleidung und verbannten mit ihrer „Schlamp-Attacke“ die scharfe Trennung von Tages-, Abend- und Freizeitkleidung. Cordhose, Jeans und Rolli standen für die Solidarisierung der Intellektuellen mit Nichtakademikern – trotz allem eine reichlich elitäre Attitüde. In einer Zeit, als Frauen außer Haus noch immer nur ungern in Hosen gesehen wurden, galt das allerdings als antibürgerlicher Affront erster Güte.

Aber die wahre Mode-Hauptstadt hieß damals Swinging London mit seiner Carnaby-Street. Hier waren es nicht nur Kunststudenten, sondern vor allem auch Musiker, die den ´68ern ihren optischen Stempel aufdrückten. Mary Quant hatte für diese Zwischengeneration eine ähnliche Funktion wie Vivien Westwood für den Punk (und sorgte ähnlich wie Malcolm McLaren mit ihrer Gesamtkonzeption der Boutique als Trendsetter und Subkultur-Treffpunkt für Furore). Ob sie den Minirock letztendlich erfunden hat, bleibt jedoch umstritten. Diesen trug frau mit flachen Stiefeln und weißen Kniestrümpfen – doch was heißt hier „frau“: neue Schönheitsideale waren vorpubertäre Models à la Twiggy und Jean Shrimpton mit rundungsfreien Plättbrettfiguren! Eine Absage auch an die traditionelle Mutterrolle?

Visuelle und mediale Großereignisse der damaligen Zeit waren vor allem die Olympiaden in Mexico 1968 und München 1972. Ihnen verdanken wir die kleinen Piktogramme für die einzelnen Sportarten: nonverbal, gleichwohl international verständlich! (Nach dem gleichen Prinzip funktionierten auch Mitteilungen, die die „Apollo 11“-Crew 1969 für einen etwaigen Mann im Mond parat hielt!).

In Mexico stand die OpArt mit ihrem flimmernden Lineament Pate für die visuelle Olympia-Ausstattung, und in München kämpfte Otl Aicher für ein einheitlich modernes Erscheinungsbild der „Weltstadt mit Herz“: „Corporate Design“ als ultimative Designer-Aufgabe Anno ´68, ob für die British Railways, Mobil Oil, Xerox oder eben ganze Städte.

Die junge deutsche Grafiker-Generation grenzte sich damals von der alten Garde aus NS-Zeiten ab und suchte zugleich an den Bruch in den 30er Jahren anzuknüpfen, agierte traditionsmäßig praktisch im Vakuum und griff begierig Anregungen der amerikanischen Kunst auf (OpArt, PopArt, Rothko, Comics etc.). Der reine Funktionalismus wich zugunsten der Emotion: irrationale, organische Formen und kontrastreiche Farben – das Leben war ein Spiel!

Amüsant zu sehen, daß sich die Amerikaner zur gleichen Zeit bei europäischem Expressionismus und Dadaismus bedienten und vor allem die Ornamentik des Jugendstil für ihre Plakate adaptierten. Poster wurden nun zum Vehikel der Pop-Kultur, und im Paris der bürgerkriegsähnlichen Studentenrevolte hatte ihr Einsatz auch handfeste kommunikative Gründe.

Überhaupt bemühten sich die ´68er um den Aufbau einer alternativen Presse (in der BRD entstand u. a. „Pardon“), wie es die Underground-Zeitschriften der amerikanischen Westcoast vormachten. Sie nahmen sich ungewöhnlicher, tabuisierter Themen an (Pornographie, Drogen, Revolution) und realsierten ein psychedelisches Fantasy-Design. Vorreiter dieser neuen Magazingrafik in Deutschland war „Twen“, das sich von der Studentenzeitschrift zum Publikumsobjekt mauserte, allerdings nicht im Hippie-Layout, sondern in Anlehnung an die neue Fotographie: alles war Material, Bilder wurden angeschnitten, stark vergrößert oder gestürzt.

Die internationale Studiofotografie ging buchstäblich auf die Straße und „inszenierte“ ihre Shootings. Models wurden in Aktion abgebildet und taten alles, nur nicht stillstehen! Die altbackene Grazie wurde über Bord geworfen, Attitüden waren wichtiger als die Mode selbst.

In der Musik schlug sich das „neue Sehen“ in bewußter Cover-Gestaltung nieder, man denke nur an der Beatles „Sgt. Pepper“ (als erstes Klappalbum und überdies mit komplettem Textabdruck!), wo Peter Blakes aufwendige Collage Modernität und Nostalgie verschmolz. Die Stones übertrafen dies kurz darauf noch mit der bis dato teuersten Albumgestaltung für „Her Satanic Majesties Request“. Und Comiczeichner Robert Crumb durfte sich am Cover für „Cheap thrills“ verkünsteln, einer Platte von Janis Joplin and The Holding Company.

Die Merchandising-Welle rollte langsam an, Pop wurde zum Lifestyle mit den zugehörigen Devotionalien. Und in Übersee war Bob Dylan seiner Zeit mächtig voraus: ´65 drehte er den ersten Video-Clip aller Zeiten zum „Subterrean Homesick Blues“ und warf mit Texttafeln um sich, während sich Allen Ginsberg im Hintergrund zeigte.

Ende der 60er Jahre verpaßten sich auch deutsche Literaturverlage eine eigene Optik: der dtv (´61 gegründet) engagierte den Schweizer Grafiker Celestino Piatti, der die Cover mit seinen Krakel-Zeichnungen versah. Im Hause Suhrkamp (seit ´59 unter der Leitung von Siegfried Unseld) stattete Willy Fleckhaus die Produkte mit neuem Outfit aus, Taschenbücher wurden zumeist in eine einzige Farbe gesteckt, und mehrere Bücher ergaben so im Regal eine bunte Palette. Einen Klassiker landete Fleckhaus mit der Reihe „bibliothek“: Einfachheit und Vernunft standen den Umschlägen eingeschrieben – auch sie einfarbig und nur durchbrochen von einem schmalen horizontalen Streifen. Farbe, Form und Schrift harmonierten zeitlos modern!

Doch vom Ausflug in die späten 60er zurück in die Rezensions-Realität. Wohnen und Mode, Design, Grafik und Werbung – der großformatige Band deckt eine weite Spanne ab. Doch die Beiträge bleiben leider oft zu theorieverliebt und zu abstrakt. Ob 30 Jahre Abstand nicht ausreichen, um einen geordneten Blick auf das Phänomen „´68“ freizulegen, oder ob hier die ordnende Herausgeber-Hand fehlte, um die Aufsatz- und Interview-Sammlung auch für Design-Laien lesbar zu gestalten?

Ein gutes Maß Betriebsblindheit mag verantwortlich dafür sein, daß dem Leser ein nahezu ungefilterter Einblick in die Domäne der „industrialisierten Poesie“ (Design-Papst Alessi) geboten wird. Als solchen sollte man ihn dann auch nehmen: „´68 – Design und Alltagskultur zwischen Konsum und Konflikt“ ist ein Lesebuch: querlesen also erlaubt! Wo man möchte, kann man sich in die Artikel vertiefen, aber schon die Bilder allein lohnen die Anschaffung – nicht nur, aber gerade auch für Menschen, die nicht in Düsseldorf waren, denn nur mit Hilfe des Katalogs kann man sich das Ufo-Haus „Futuro“ vor Augen führen!

Wolfgang Schepers [Hg]:
68 - Design und Alltagskultur zwischen Konsum und Konflikt
(DuMont: Köln 1998)

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