Über die Gründe für die nicht nur hierzulande enorme Beliebtheit von Krimis aus dem Forensikmilieu kann man nur spekulieren. Vielleicht ist es dieses Nebeneinander von archaischem Grauen und nüchterner Wissenschaft, das den Reiz des Zweiges begründet. Dass dessen Helden in aller Regel Heldinnen sind, mag das Bild abrunden. Die Frau als Mittlerin zwischen dem Irrationalen und dem Rationalen. Ende des psychoanalytischen Einstiegs.
Renate Kampmanns „Fremdkörper“ spielt in diesem Milieu. Ihre Protagonistin Leonie Simon arbeitet als Gerichtsmedizinerin in Hamburg, hat eine detektivische Ader und das ausgeprägte Talent, sich überall Feinde und sonstige Gegner zu machen.
Auf dem Dachboden eines Mietshauses wird die mumifizierte Leiche einer seit vier Jahren vermissten jungen Frau gefunden, Tochter einer Oberstaatsanwältin, was die Sache wesentlich kompliziert. Zur gleichen Zeit wird Hamburg durch die Taten eines sogenannten „Sniper“ in Atem gehalten, eines Killers also, der wahllos Menschen erschießt.
Der Roman entwickelt seine beiden Handlungsstränge gemächlich und präzise, in einer diesem Transport von Informationen angemessenen Sprache, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Manchmal, wenn etwa medizinische Phänomene zu erklären sind, ein wenig dozentenhaft, aber das stört nicht wirklich.
Zur Erzählperspektive der Leonie Simon gesellt sich bald die des Killers. Der Leser hat nun einen Informationsvorsprung, er kriecht in die Psyche des Sniper und weiß lange vor der Protagonistin, dass sich die Handlungsstränge auf das Unheilvollste miteinander verknüpfen. Dramaturgisch geschickt gemacht, und auch die Zufälligkeit, die solchen Begegnungen zweier eigentlich separater Abläufe innewohnt, entbehrt nicht ausreichender Logik.
Bei aller Konzentration auf diese Ereignisse gelingt es Renate Kampmann, die wirkliche Welt in prägnanten Snapshots einzufangen und zu integrieren. Die wirkliche Welt in all ihrer Brutalität: Totgeprügelte Kinder, misshandelte Frauen, die alltägliche Kriminalität und die Verwahrlosung einer ignoranten Gesellschaft.
Nein, „Fremdkörper“ ist nicht der befürchtete Versuch, sich an einen Trend zu hängen. Vielmehr ein eigenständiger und souverän gearbeiteter Krimi, dramaturgisch gekonnt und mit psychologischem Augenmaß in Szene gesetzt. Sehr erfreulich.
Renate Kampmann: Fremdkörper. Kindler 2005, 432 Seiten, 19,90 €