Krimikultur – die Thesen

freitagsessay.gif

Gibt es eine Krimikultur in Deutschland? Aber immer! Wir haben Autoren, Verlage, Kritiker und, nicht zu vergessen, Leser. Über Krimis wird geschrieben, gesprochen: in Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, im Internet mit seinen Portalen, Blogs und Foren. Eitel Sonnenschein über Deutsch-Krimiland, Freitagsessay fertig.

Doch wie dem aufmerksamen Leser schwant, erübrigt sich die Frage nach einer deutschen Krimikultur keineswegs. Was oben aufgezählt wurde: gut und schön. Aber es ist keine Kultur. Es sind die Voraussetzungen, deren Kultur bedarf. Und was ist nun diese Kultur?

Sagen wir es in freier Rede: Kultur heißt, sich mit einem Gegenstand zu beschäftigen, ihn zu pflegen, über ihn nachzudenken, ihn weiterzuentwickeln, ihn zu kritisieren und zu fördern, ihn zu beschreiben und zu verbreiten. Ein verzwicktes Thema, und wir werden ihm in einer Sitzung nicht beikommen. Spazieren wir heute also nur kurz durch deutsche Krimikultur, wie sie – in einem visionären Idealzustand – erblüht sein könnte:

In einer Krimikultur hat man sich die Wurzeln, aus denen Krimi gewachsen ist, genau, objektiv und abseits überkommenen Schemadenkens betrachtet. Dies zu unternehmen, wäre Aufgabe der Literaturwissenschaft; doch bereits ein kursorischer Streifblick über dieses Terrain lässt Schlimmes erahnen. Schon bei der Erfassung der Objekte wurde dermaßen geschludert, dass ein einziger forschender Blick Schätze zu Tage fördert, von denen „die Facharbeiter“ keine Ahnung haben. (Das ist natürlich jetzt Schleichwerbung. Siehe → hier ).

Eine, nicht nur wissenschaftliche, Beschäftigung mit Krimis wäre in unserer Kulturvision nicht „elitär“ im Sinne eines verkopft-akademisierten, sprich: bildungsbürgerlichen Verständnisses. Sie befleißigte sich einer offenen Toleranz, was die Ausprägungen ihres Gegenstandes angeht, und kritisch hinsichtlich der Qualität der in diesen Ausprägungen entstandenen Produkte. Beispiel: Die sogenannten „Schundromane“ sind selbstverständlicher Teil der Krimikultur und werden mit der gleichen Sorgfalt behandelt wie die unsäglicherweise so genannten „literarischen Krimis“. Kein Mensch verlangt, dass ich jeden Heftchenroman in den Kanon „schützenswerter Krimis“ aufnehme; zum Phänomen Krimi gehört er sehr wohl, und zwar mehr, als sich manchereiner vorstellen mag.

Krimikultur ist das Werk einer Gemeinschaft, eines Netzwerkes, denn Kultur ist nicht zuletzt Kommunikation. Hier sind wir, das Internet sei Dank, auf einem guten Weg. Doch das Medium ist flüchtig, die Kulturlandschaft disparat, Kleinstaaterei gewissermaßen, aber nichts, was man nicht ändern könnte.

Die Krimikultur grenzt sich nicht ab zu anderen Kulturen. Ihr Versuch, Form anzunehmen, bedeutet nicht, sich aus der Gesamtkultur herauszuheben. Sie bleibt ein Teil dieses Ganzen, das – sehr visionär – wie ein System kommunizierender Röhren agiert. Sagen wir es sehr konkret: Krimis sind ein Teil der Literatur, die Literatur ist ein Teil des Lebens, des Individuums, der Gesellschaft.

Und zum Schluss: Krimikultur ist keine Eigenschaft, sondern eine Methode. Das muss man erklären. Die Begriffe selbst stammen aus der objektorientierten Programmierung, sind aber leicht zu übertragen. Einem Werk der Kriminalliteratur wird nicht der Stempel „kulturell“ als eine zusätzliche Eigenschaft angehängt, sondern „Kultur“ umschreibt die Art des Umgangs mit einem der betreffenden Gegenstände. Das ist deshalb wichtig, weil es Kulturen so an sich haben, irgendwann statisch zu werden, vor lauter Regeln und Gesetzen, Konventionen und sonstigen Gewohnheiten unbeweglich, leblos.

Soweit die Vision, die, bei Ihresgleichen üblich, nicht ohne Schrammen in die Wirklichkeit fällt und wohl mehr Fragen offenlässt als beantwortet. Was soll eigentlich „Krimikultur“? Wem nützt sie, wer braucht sie, was bewirkt sie, was ist mit den Verlagen, den Autoren, den Lesern? In den nächsten Folgen des Freitagsessays wollen wir die fünf vorgenannten Kriterien etwas genauer betrachten. Begonnen sei dann mit der „Forschung“.

7 Gedanken zu „Krimikultur – die Thesen“

  1. warum immer nur Holtei? warum nicht Müllner, Laurids Kruse, J. D. H. Temme, Luise Reinhardt? Allein das Literaturverzeichnis von H.-O. Hügels Diss. (1978) läßt die Augen übergehen.

    Viel Spaß: Joachim Linder

  2. Na, lassen Sie mir doch meinen Holtei, Herr Linder! Der Mann soll mich schließlich reich und berühmt machen! Aber schon recht: Man braucht nur flüchtig hinzuschauen und schon gruselts einen. Ich sag nur: „Judenbuche“. Viel mehr ist den Kollegen auch nicht eingefallen, als so ein (höchstens) Aside aufzupuschen.

    bye
    dpr

  3. na klar: Holtei ist genehmigt (Holtei überhaupt). Warum Sie allerdings ‚Judenbuche‘ ausrufen, verstehe ich nicht (der Text ist einfach klasse — und was andere Menschen über ihn schreiben, das kann man schließlich auswählen).

    J. L.

  4. „Judenbuche“ exemplarisch für eine – nennen wir es hanebüchene – Bestimmung, was Krimi sei. Ich sage ja nichts gegen den Text an sich – sehr wohl aber etwas gegen seine Verwendung als „exemplarischer Krimi des 19. Jahrhunderts“. Ist er nicht. Auch nicht „Unter’m Birnbaum“ oder ähnliches. Aber: großes, fettes Thema. Kommt bald was Größeres, nicht ganz so Fettes dazu.

    bye
    dpr

  5. Lieber dpr,

    verzeihen Sie; aber da schießen Sie doch auf einen oder mehrere Pappkameraden. Die Literaturgeschichtsschreibung, die ‚Judenbuche‘ (oder was das angeht: ‚Verbrecher aus verlorener Ehre‘, ‚Scuderi‘, ‚Lucie Gelmeroth‘, ‚Stopfkuchen‘, ‚Horacker‘, ‚Birnbaum‘, ‚Quitt‘ … usw. usf.) der Geschichte des Krimi-Genres unmittelbar zugerechnet hätte, die gibt’s doch nicht und gab’s auch nie. Das ist genau umgekehrt gelaufen: Vor lauter Angst, daß passieren könnte, was sie als verhängnisvolle Verwechslung fürchteten, haben Juristen wie Thomas Würtenberger (1941) und Literarhistoriker wie Richard Gerber (1966) die Unterscheidung zwischen ‚Kriminalliteratur‘ und ‚Verbrechensdichtung‘ aufgenommen und für eine gewissen Zeit auch durchsetzen können (mit Lenkungsabsicht: die guten ins Töpfchen …: da müssen Sie nur auf die Jahreszahlen sehen).

    Aber es ist auch keine Frage, daß die genannten Texte die Genre-Entwicklung in Deutschland und anderswo beeinflußt haben (wer hat, z. B., E. T. A. Hoffmann gelesen?). Das ist schon vielfach gezeigt worden und beweist vor allem, daß sich Genre- und Diskursgeschichten ergänzen (man kann sie nur nicht immer gleichzeitig betreiben).

    Weil ich jetzt dringend an den Herd muß, schließe ich zwar übereilt, aber doch mit einem Zitat von Heißenbüttel (der auch schon Schrulliges zum Thema sagte):

    „Linguistenherbst.

    Zwei amerikanische Linguisten trafen einander, als sie schon etwas älter waren, einmal und vollzogen einen Sprechakt aneinander. Wozu eigentlich nichts weiter hinzufüggen wäre, es sei denn, daß niemand weiß, ob die Linguisten sich nicht in Wirklichkeit bloß einfach über das Wetter unterhalten haben oder ob es ihnen diesmal gelungen ist, den Gang der Weltgeschichte auf den, wie es Hans Wollschläger ausgedrückt hat, Satz zu reduzieren: Karlchen fährt Roller.“

    In diesem Sinne (und sich an Huhn mit Linsen machend)

    J. L.

  6. Huhn mit Linsen hört sich gut an…
    Aber ich weiß nicht, ob da tatsächlich auf Pappkameraden geschossen wird. Die Bedeutung Hoffmanns, generell der Romantik!, für die Entwicklung des Krimis ist nicht zu unterschätzen (wobei die Romantik wiederum vom Schauerroman profitierte – Grosses „Genius“ etwa). Aber diese unselige Kanonisierung, die sämtliche „Trivial- und Unterhaltungsliteratur“ außen vor ließ, war mitnichten nur ein temporäres Phänomen, sondern zeigt seine Wirkungen bis heute. Aber, wie schon gesagt, großes Thema. Übrigens halte ich den „Stopfkuchen“ für ein absolut abgewichstes Stück Prosa des Herrn Rabe. Klasse, der Mann! So, Sie Huhn mit Linsen, unsereiner guckt doch mal in den Temme (Handexemplar des Meisters!). Sie sind schuld!

    bye
    dpr

  7. einmal noch und weil Sie auf Stopfkuchen abfahren: er hat sich mit Ihrem Problem (Kanonisierung, oben/unten) ständig beschäftigen müssen. Auf schön-schrullige Weise ist dem einmal Eckhardt Meyer-Krentler nachgegangen: „Unterm Strich“. Literarischer Markt, Trivialität und Romankunst in Raabes ‚Der Laar‘. Paderborn u. a.: Schöningh 1986.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert