Matthew Pearl: Der Dante Club

Boston 1865. Eine Gruppe von Autoren und Forschern um den gefeierten Dichter Henry Wadsworth Longfellow beginnt das Projekt einer Übersetzung von Dantes „Göttlicher Komödie“. Nicht nur eine künstlerische Herausforderung. Traditionalistische und nationalistische Kreise opponieren mit Rufmord und sonstigen Intrigen gegen das Vorhaben, das Land steckt unmittelbar nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs in gesellschaftlichen Turbulenzen, dennoch wird das Projekt 1867 erfolgreich abgeschlossen.

Soweit die historischen Tatsachen. Wer nun wie Matthew Pearl ausgewiesener Dante-Experte ist und mit dem Verfassen eines Krimis liebäugelt, kann an dieser Gelegenheit nicht tatenlos vorübergehen. Liefert doch Dante im „Inferno“-Teil seines Werkes eine Reihe geradezu paradigmatisch grausiger Mordmethoden, als da wären: Von Mückenlarven bei lebendigem Leibe verzehrt werden – Kopfüber eingegraben und dann die Füße in Brand gesetzt – Nackt in eiskaltes Wasser verfrachtet – um nur die effektvollsten zu nennen und auch die nur in einem kleinen Auszug.

Da Matthew Pearl seinen Krimi geschrieben und „Der Dante Club“ genannt hat, ahnen wir auch schon die Verbindung von historischen Fakten und aktueller Fiktion. Ein Mörder geht um in Boston. Er bringt honorige Bürger à la Dantes „Inferno“ um die Ecke und achtet dabei genau auf die Zuordnung von Schuld und Strafe, wie sie die literarische Vorlage empfiehlt. Ein Dantekenner also, und das entgeht den Wolkenkuckucksheimern um Longfellow nicht. Sie machen sich auf die Suche nach dem Täter, nicht ohne Eigeninteresse natürlich, denn die Verbindungen zwischen Dante und Serienmord wären, einmal aufgedeckt, Wasser auf die Mühlen der Gegner.

Man weiß nicht, wo man anfangen soll, Pearl zu loben. Für die bloße Idee auf jeden Fall, aber was wäre die ohne die Ausführung? Die präzise Schilderung der akademischen Welt verzahnt mit der einer Gruppe mehr oder weniger durchgeistigter Gelehrter, die als Individuen Kontur gewinnen und als Romanfiguren jene Reife, die es ihnen schließlich ermöglicht, den Mörder zu entlarven. Genau dies versucht auch Bostons erster schwarzer Polizist Nicholas Ray, und wie Pearl in dieser Figur die Problematik der „Negerbefreiung“ bündelt, den scheinbar nie auszurottenden Rassismus, die ewig währende Dummheit, das ist genauso beeindruckend wie die kosten- und schmerzlose Einführung in Dantes Hauptwerk, die der Autor als Bonus oben drauf packt.

Pearls Technik, die Charaktere dieser ja nicht aus dem Hut der Phantasie gezauberten Protagonisten zu formen, bedient sich der schriftstellerischen Imagination ebenso wie historischer Quellen. Vieles ist Zitat, Erinnerung von Zeitgenossen, Bruchstücke der Wirklichkeit also, die Pearl nahtlos ineinander fügt. Auch die Entscheidung, die Ermittlungen quasi von zwei Seiten führen zu lassen, aus akademischer Höhe und den Niederungen des Alltags, erweist sich als glücklich. Und selbst die offensichtlichste Klippe umschifft Pearl souverän: Den Leser erwarten keine ermüdenden Exkurse über Dantes Leben und Werk. Was wir darüber erfahren, verliert nie den Kontakt zur Story, wächst aus ihr heraus, wächst in sie hinein.

Ein Thriller, der sich aus eher peripheren historischen Ereignissen erhebt, ein Stück Gesellschafts- und Literaturgeschichte lebendig macht und schließlich mitten in der unendlichen Geschichte der Betrogenen eines jeden Krieges landet. Hervorragend.

Matthew Pearl: Der Dante Club. 
dtv 2005. 527 Seiten, 8,90 €

2 Gedanken zu „Matthew Pearl: Der Dante Club“

  1. Moin, lieber dpr,

    mein Lektüreeindruck war vor gut eineinhalb Jahren ein anderer. Geschliffene Konturen der Figuren konnte ich nur wenige erkennen. Ich habe bei meiner Lektüre immer in Lexia nachschauen müssen, wer denn die historischen Vorbilder waren und habe da weit mehr erfahren als bei Pearl.

    Auch die behäbige Sprache und die teils drögen Dialoge (soweit ich das aufgrund der Übersetzung beurteilen kann) und der moderne Erzählaufbau (schnelle Szenenwechsel) waren in meinen Augen vertan. Dieser Gegensatz hätte etwas Spannendes haben können, aber Pearl gibt sich zu bemüht, zu angestrengt, diesen Gegensatz aufzubauen. Leichtigkeit war das nicht, eher eine akademische Kopfgeburt.

    Besonders ärgerlich fand ich den Schluss: Pearl rattert die Lösung auf ein paar Seiten lustlos herunter. Für einen Roman, der mit den Konventionen eines Whodunit spielt, wäre dies sicher eine interessante oder mögliche Spielvariante, doch bis zu diesem Schluss gab sich der Roman sehr klassisch in Bezug auf die Frage „Wer war’s“.

    Für mich war es eine misslungene, akademische Fingerübung.

    Viele Grüße
    Ludger

  2. guten Morgen, Ludger,

    na so was? Wir beide mal nicht einer Meinung? Aber schon okay so. Was ich bei solchen „authentischen“ Sachen immer vermeide, ist das Nachschauen im Lexikon. Okay, Longfellow ist mir seit meiner Poe-Lektüre ein Begriff. Aber sonst? Mich interessiert, wie der Autor diese Personen gebaut hat. Und ich finde sie „glaubwürdig“. In ihrem Gehabe, ihren Ängsten, ihren Widersprüchen.
    Gerade dieses „Behäbige“ passt m.E. zum Milieu, in dem der Roman spielt. Leichtigkeit habe ich nicht erwartet und war auch nicht besonders erpicht drauf.
    Ich glaube auch nicht, dass Pearl mit „den Konventionen des Whodunit“ spielt. Es IST ein Whodunit. Über den Schluss kann man sich streiten, aber diese Rückkopplung zum seelischen Desaster eines Kriegsgeschädigten fand ich gelungen.
    Ich fasse es immer noch nicht…kann man über einen Krimi zwei verschiedene Meinungen haben? Mal sehen, was die Rezensentenschule dazu sagt.

    bye
    dpr

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