Keine Sorge; die Geschichte des Kriminalromans muss nicht neu geschrieben werden. Nach der Lektüre von Adolph Müllners Novelle „Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten“ wäre es indes angebracht, sie wenigstens zu ergänzen.
Es ist das Erscheinungsjahr 1828, das die Sache ein wenig brisant macht. 13 Jahre vor der gemeinhin als „Geburtsstunde des modernen Krimis“ gefeierten Veröffentlichung von Edgar Allan Poes „Die Morde in der Rue Morgue“ wandelt unversehens ein Detektiv durch die deutsche Provinz, ein Beamter namens „von L.“, der einen mysteriösen Mord aufzuklären hat. Im „Scheidewald“, wo allerhand Diebsgesindel sein Unwesen treibt, stirbt der Kaufmann Heinrich Albus in den Armen seines ihn begleitenden Bruders Ferdinand an einer heimtückischen Kugel. Dieser Ferdinand, nervlich äußerst exaltiert, macht sich bittere Vorwürfe. Hat er, der bewaffnet war, durch seine Reaktion das Verbrechen eskalieren lassen?
Gleichwohl: von L. ermittelt. Wie er dies tut, hat nun wirklich nichts von der deduktiven und induktiven Brillanz eines Auguste Dupin, so dass die gelinde Erwartung, von L. sei ein Vorläufer des Poe’schen „role models“ und als solcher in seine vollen Rechte zu setzen, rasch enttäuscht wird.
Und dennoch: Um die Rekonstruktion der Ereignisse, mithin die Fixierung von Wirklichkeit, geht es auch bei Müllner. Das Reizvolle daran: Es sind gleich zwei Detektive am Werk. Einmal natürlich von L., der die Dinge nüchtern und amtlich korrekt analysiert (obgleich er der Verlobten Ferdinands gegenüber mehr als nur Sympathie hegt, also „befangen“ ist), dann aber auch der von Schuldgefühlen geplagte Ferdinand selbst, dessen Interpretation der Dinge eine völlig andere als die des Beamten ist.
So kommt es schließlich zu der durchaus originellen Konstellation, dass nicht, wie in Kriminalromanen sonst üblich, der Detektiv die Schuld des Täters zu beweisen trachtet, sondern – gegen den entschiedenen Willen des letzteren – dessen Unschuld. Das Ende der Novelle wiederum sieht die schiere Faktizität obsiegen, die Macht der Indizien ist es, die Recht und Wirklichkeit wiederherstellt.
Müllner, ein ebenso erfolgreicher Dramatiker wie berüchtigter Betriebsquerulant, befindet sich mit „Der Kaliber“ zwischen der Psychologie der Romantik und der beschreibenden Nüchternheit des Realismus. Dort steht er ganz dicht bei Poe. Dem mag wohl nicht zu nehmen sein, die Psyche mit analytischer Strenge seziert zu haben – Müllner jedoch hat sich das Verdienst erworben, überhaupt klargemacht zu haben, um was es Poe eigentlich geht: um Erkenntniswege und ihre Sackgassen, um Rekonstruktion, die nicht selten zur Konstruktion wird. Ist Poe also zu Recht ein „moderner Autor“, so sollte man Müllner den Titel eines Zuarbeiters der Moderne nicht vorenthalten.
Adolph Müllner: Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten.
Liliom Verlag 2002. 125 Seiten,15 €. ISBN: 3-934785-01-8.
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Spannend! Sieht so aus, als hätten einzelne Nationalliteraturen ziemlich unabhängig voneinander das detektorische Erzählen als wichtige Form der Repräsentation der Strafverfolgung (oder: der Aufdeckung von Geheimnissen, die einzelne für sich behalten möchten) entwickelt. (Daß, übrigens, die Deutschen auf lange Sicht eine deutliche Vorliebe für amtliches Ermitteln kultivierten, sei am Rande vermerkt. Wer jetzt ‚Obrigkeitshörigkeit‘ schreit oder murmelt, der hat einerseits recht, muß andererseits erklären, warum die Franzosen den ‚roman policier‘ lange vor Maigret entwickelt haben, aber auch zur Kenntnis nehmen, daß die lesende und schreibende Mittelschicht der Angelsachsen ihr schlechtes Sicherheitsgefühl einer notorisch schlecht organisierten Strafverfolgung zuschrieben).
Müllner: wie könnte der auf seine speziellen Themen gekommen sein? Lesend. (Daß Lesen die Phantasie an- und erregt, steht — mit Blick auf Kriminalfälle — ja schon auf den ersten beiden Seiten des „Kaliber“).
Wer z. B. wissen wollte, daß Geständnisse alles andere als zuverlässige Beweismittel darstellen, der brauchte um 1822 (davor und danach) nur die Zeitung aufzuschlagen (oder in’s örtliche Literarische Museum gehen): dem Fall Fonk konnte er nicht entkommen (den 2002 Ingrid Sybille Reuber (sic) — und wesentlich trockener als Opitz seinen Tinius — rekonstruiert hat).
Und die Ausgangskonstellation in Müllners „Kaliber“ entspricht genau der Schlußkonstellation in Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“: Jeweils sagt einer: „Ich“ bin der Täter — womit die Arbeit der Justiz eben nicht getan ist, sondern erst anfängt (und bei Schiller konnte sich Müllner auch gleich die Reflexionsperspektive holen: Lesen und Phantasie).
Na dann: Weiterlesen!
Ha, Herr Linder,
je weiter man in dieses Gebiet vordringt, desto spannender wird es! Passen Sie mal auf, morgen, da erzähl ich Ihnen hier was von Zufall oder Nichtzufall, das glauben Sie nicht (ist aber wahr!). Von wegen Opitz und Tinius und so und dass man ab und an mal „was Altes“ lesen sollte (Sie tun ja, immerhin).
bye
dpr