Das perfekte Stück Literatur gibt es nicht. Und wenn es doch einmal auftauchen sollte: dann gibt es den perfekten Rezensenten nicht.
Ist das schlimm? Nicht als Faktum an sich; nur die Folgen sind bisweilen unangenehm. Ein durchschnittlich gelungenes Buch hat Stärken und Schwächen, ein durchschnittlich begabter Rezensent desgleichen. Was aber heißt: Prallen Buch und Rezensent aufeinander, weiß man nie, was dabei herauskommt, es gibt einfach zuviele Möglichkeiten. Vielleicht hat der Besprecher keinen Sinn für Sprache; dann mag ein Werk noch so kunstvoll geschrieben sein, der Kritiker wird es nicht erkennen, geschweige denn schätzen, stattdessen sticht ihm vielleicht der etwas zu von Zufälligkeiten zusammengehaltene Spannungsbogen ins Auge – und schon weist der Pfeil nach unten.
Vieles ist auch reine Geschmackssache oder geschieht mit Rücksicht auf den geneigten Leser, die geneigte Leserin; nehmen wir →meine letzte Rezension, die Petra Würths und Jürgen Kehrers gemeinsamen Krimi „Blutmond“ – nun ja, nicht verriss, aber doch als „Kunstwerk“ relativierte und in die Ecke „textgewordenes Fernsehen“ abdrängte, wo es gut hinpasst und nicht einmal eine schlechte Figur macht.
Den Leser mag diese Vorgehensweise verwirren, denn augenscheinlich hat das Buch meinen Ansprüchen nicht genügt. Zutreffend. Ich musste mich also mit der Frage „Verfügt der Text über Qualitäten außerhalb meines literarischen Geschmackshorizonts?“ beschäftigen und habe, denke ich, eine solche Qualität entdeckt. Bis auf die kriminalistischen Basics skelettiert, Normkrimi für Normleser, was keine Beleidigung sein soll, sondern lediglich eine Feststellung ist.
Ich gebe zu, dass ich dabei nicht konsequent bin. Manchmal sind mir die Leser schnuppe – das heißt: die, die ein Buch eventuell ansprechen könnte. Nehmen wir den in deutschen Krimiblogs inzwischen schon fast legendären „Schafskrimi“ der Frau Swann oder nehmen wir – fängt komischerweise auch mit „Sw“ an – Sobo Swobodniks völlig misslungenes „Oktoberfest“. Bei Titeln wie „Blutmond“ vermag ich mir vorzustellen, dass ein Leser, eine Leserin nichts weiter möchte als gute, konventionelle Unterhaltung, ohne literarisch hohen Anspruch, ohne den Hintergedanken, allzu sehr die grauen Zellen bei der Lektüre anstrengen zu müssen. Ein legitimes Bedürfnis, und wer wäre ich, es vollständig aus meiner Perspektive zu verbannen?
Meine Perspektive. Das ist natürlich eine Untertreibung, denn wie die meisten Menschen habe ich mehrere. Demzufolge hat meine „Objektivität“ die freie Auswahl aus diesen Perspektiven. Ich kann mich auf eine konzentrieren, kann zwei oder drei oder vier zusammenfügen – ich kann also problemlos mehrere Rezensionen zu einem Krimi verfassen, mehrere Rezensionen, die, mag sein, das Objekt ihrer Bemühungen in sich eigentlich gegenseitig ausschließende kritische Beleuchtungen tauchen. Denn da ja auch kein Werk perfekt ist, bietet es diverse Angriffsflächen für meine kritischen Eingriffe.
Aber aufgepasst! Ist das Werk nicht perfekt, kann, wie oben erwähnt, es der Rezensent auch nicht sein. Heißt: Manchmal sieht er Qualitäten, die unbezweifelbar vorhanden sind, in einem Krimi nicht. Beispiel: Ian Rankin. Ich werde einfach nicht warm mit ihm. Obwohl ich ja erkenne, warum man ihn allerorten lobpreist. Aber könnte es sein, dass er beim Spannungsaufbau etwas nachlässig ist? Könnte es sein, dass ein Schottland-Trauma im Tiefsten meiner Seele wütet (obwohl wir gegen Schottland, so weit ich weiß, noch nie ein Fußballspiel verloren haben)? Würde ich ihn also kritisieren, sähe ich mich in der Verlegenheit, diese meine Unfähigkeit des Nicht-warm-werden-Könnens in Worte zu fassen oder die nicht zu leugnenden Vorzüge des Rankinschen Erzählens zu analysieren, ohne meine Bedenken zu äußern. Natürlich könnte ich auch beides in einem Aufwasch – doch wozu? Für wen?
Nein, es ist schon recht kompliziert. Knüpfen wir das nächste Mal an dieser Stelle an und schauen, wie wir uns geschickt aus der Affäre ziehen können. Und weil der Mensch, wenn ihm alles über den Kopf wächst, sich immer eine hilfreiche Maschine baut, will ich auch eine vorstellen: die 3-S-Rezensionsmaschine. Bleibt dran!
dpr