Wem der Herrgott die Gnade der Rezensionsexemplare hat zuteilwerden lassen, der investiert sein gespartes Büchergeld bisweilen in Altpapier. Meine letzte Neuerwerbung – nein, nicht Holteis „Schwarzwaldau“, das man übrigens →hier und jetzt! immer noch vorbestellen kann – meine letzte Neuerwerbung also drudelte vor ein paar Tagen bei mir ein und ward sogleich gelesen. Sind ja nur 168 Seiten, ein schmales Duodez-Bändchen halt, eine „Criminal-Novelle“ aus dem Jahre 1871, und ich wußte nichts über ihren Inhalt. Tja. Und dann gingen mir die Augen über und über…
Worum geht es? Ein Fuhrmann wird ermordet und beraubt. Der Sohn eines Gutsbesitzers gerät in Verdacht, hat aber seinerseits alle Hände voll zu tun, die geliebte Schwester aus den Klauen eines Mitgiftjägers zu befreien, der – und jetzt wirds spannend – ein Pfarrer ist. Ein gelehrter Mann mit Interesse für Botanik und – jetzt wirds noch spannender – Bücher. Etwa 40.000 hat er.
Im Folgenden entwickeln sich ein veritabler Vater – Sohn – Konflikt, eine dramatische Liebesgeschichte, wie kaum anders zu erwarten, der Pfarrer entpuppt sich als Bösewicht des Buches, tja, und dann passierts: ein zweiter Mord.
Was ich über die Umstände dieses Verbrechens erfahre, kommt mir sehr bekannt vor, so, als hätte ich es gerade eben erst gelesen. Und, tatsächlich, so ist es auch. Bis in kleinste Details nämlich schildert der Autor dieses reizenden stammenden Werkleins den berühmten Tinius-Fall, dessen Opitzversion ich ja gerade unterm Kritikerauge habe. Die Übereinstimmungen sind frappant und es ist klar, dass sowohl der Autor dieses alten als auch der Autor des neuen Versuches, das Phänomen des „Büchermörders“ zu beschreiben, aus der gleichen, wenn nicht gar derselben Quelle geschöpft haben.
Auch bei unserem Altmeister wird die Tat durch das Dienstmädchen entdeckt, das früher einmal in einer Wirtschaft gearbeitet hat, die von einem leibhaftigen Magister geführt wird. So beschreibt es auch Opitz. Um nur eine der Übereinstimmungen zu nennen. Am Ende wird hier wie dort der mörderische Pfarrer vor Gericht gestellt und leugnet die Tat, indem er eine Verteidigungsstrategie entwirft, die immerhin dazu führt, dass man ihn nur wegen eines Mordes zu langjähriger Haft verurteilt, nicht aber wegen zweien zum Tode.
Ja, die Bücherwelt ist klein. Ob Opitz von seinem Vorgänger weiß? Uns lehrt die Affaire zweierlei: Einmal, dass das Lesen alter Schwarten selbst heutzutage noch einen Informationsvorsprung zeitigen kann. Und zweitens: Dass sich Motive wie das des Büchermörders über Jahrzehnte tradieren, zu Mythen werden und von den verschiedensten Autoren auf die unterschiedlichste Weise verarbeitet werden.
Ach, ja. Die „Criminal-Novelle“ heißt „Der Tolle Hans“, wurde von Adolph Streckfuß geschrieben und ist im Berliner Verlag von B. Brigl erschienen. 1871. Und ich habs wirklich gerne gelesen, lieber als den Opitz, und jetzt mögen sie über mich herfallen, die Herolde der „schwierigen Literatur“.
Für weitere Entdeckungen empfehle ich (nicht nur) das Literaturverzeichnis von
Meyer, Friederike, 1987. „Zur Relation juristischer und moralischer Deutungsmuster von Kriminalität in den Kriminalgeschichten der ‚Gartenlaube‘ 1855–1870,“ Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, Vol. 12: 156–189.
Viel Spass: J. L.
Danke, Herr Linder!
bye
dpr