Dass 99 Kritiker 99 Meinungen zu einem Buch haben – der Leser registriert es mit Verwunderung. Dass EIN Kritiker zu EINEM Buch 99 Meinungen haben kann – da wird der Leser schier verrückt.
In seinen Grundzügen ist das Phänomen jedem Leser wohlbekannt. Man liest einen Kriminalroman, den Klappentext und die aus der Lektüre der ersten Seiten genährte Erwartungshaltung als klasssischen Whodunit ausweisen – und plötzlich steckt man mitten in einem komplexen Psychokrimi. Der mag auch seine Qualitäten haben, kollidiert indes mit dem auf Whodunit justierten Blickwinkel des Lesers. Vielleicht spielt der Roman zudem in Bhutan, wo man schon immer mal hin wollte, und vielleicht ist die Schilderung von Land und Leuten, Sitten und Gebräuchen schließlich das, was alle Erwartung an einen Krimi überlagert. Und ehe man es sich versieht, könnte man drei Rezensionen schreiben.
Die erste würde der Enttäuschung Ausdruck verleihen, dass der vorgebliche Whodunit kein Whodunit ist, obwohl er zu Beginn so angelegt war. Das entscheidet alles. Nichts ist ernüchternder als die Erkenntnis, dass mein Kombinationsvermögen nicht gebraucht wird, dass man mir die oberflächliche Spannung des Mörderratens nicht vergönnt.
Die zweite Rezension wäre Ausdruck meiner Flexibilität. Kein Whodunit – dafür ein faszinierender Psychokrimi, mit einer anderen Spannung, anderen Spannungsbogen, ich weiß wer’s war, aber jetzt interessiert es mich, warum er’s war.
Und drittens: Eigentlich keine Krimirezension im eigentlichen Sinne, dafür fokussiert auf erbaulichen geografischen Informationsgewinn.
Alle drei Varianten könnten mit klugen und logischen Argumenten gefüttert werden, eine wäre so „wahr“ wie die andere. Aber es kommt noch schlimmer.
Vor geraumer Zeit habe ich mir das Späßchen erlaubt, meine sehr →positive Kritik von David Peace, „1974“, mit ein paar Handgriffen in eine →sehr negative zu verwandeln. Das mag einige Leute verblüfft haben, mancher gar fühlte sich unwohl dabei und verunsichert. Warum eigentlich? Ich habe doch nur einige Grundeinschätzungen, die jeder Leser in sich trägt, neu gewichtet. Die Darstellung von Gewalt etwa. Ich kann dieses Schwelgen in Gewalt, wie es in Peaces Roman zu besichtigen ist, als etwas Realistisches und damit auch Abbildungswürdiges sehen, es quasi abstrahieren und auf die Gesellschaft, in der wir leben, hochrechnen. Ich kann aber auch – und mehr habe ich in dieser „Alternativrezension“ kaum getan – das Ganze als reichlich zynischen Einsatz greller Mittel brandmarken, mit denen an die niederen Instinkte der Leser appelliert werden soll.
Natürlich hätte ich „1974“ auch aus diversen anderen Blickwinkeln betrachten können. Die Darstellung von Sexualität etwa. Die Moral, wie man sie von einem Krimi gemeinhin erwartet, und wie sie von Peace nicht erfüllt wird. Das kann ich negativ oder positiv sehen, das kann ich begründen, hier wie dort, das ergibt keine „verlogene Rezension“, sondern zeigte, wenn ich mir die Mühe machen würde, tatsächlich 99 Versionen meiner Ansichten anzufertigen, dass – ja was eigentlich?
Sehr einfach: Bücher sind komplexe Zeichen- und Deutungssysteme. ALLES steckt in einem Text, und trifft er auf den Leser, passiert meistens das: Ich suche jene Informationen, die meine Ansichten und Gesetze bestätigen und ignoriere den Rest, soweit er sich ignorieren lässt. Wenn nicht, fällt mein Urteil negativ aus. Sobald ich jedoch meine Individualität ausschalte und sehr nüchtern an die Sache gehe und versuche, möglichst viele dieser Deutungsmöglichkeiten herauszuarbeiten, entstehen so viele mögliche Rezensionen wie es mögliche Deutungen gibt. Sie sind nicht mehr alle „meine Deutungen“, für den Leser mögen sie indes genau „seine Deutungen“ sein. Das ist so. Nicht leicht zu begreifen, aber was ist schon leicht zu begreifen.
Also doch alles nur Geschmacksache, wie eine (leider) sehr verbreitete These lautet.
Was dann im übrigen vielfach zur Folge hat, dass eine abweichende Beurteilung als persönlicher Angriff auf den eigenen (guten) Geschmack gewertet und natürlich (nur) mit persönlichen Angriffen gegen den Abweichler gekontert wird. Hab da so meine Erfahrungen gemacht …
Jedenfalls denke ich nicht, dass deine Ausführungen ein Beleg für die Richtigkeit dieser These sind. Vielmehr dürften die ganz unterschiedlichen Empfindungen, die „1974“ beim Leser auslösen kann, gerade die hohe Qualität des Buches belegen. Schlecht geschriebene Bücher sind dagegen mit großer Eindeutigkeit schlecht geschrieben.
Nicht ohne Grund wird „Kunst“ (u.a.) definiert als vielschichtige interpretationsfähige Darbietung.
vgl.: http://www.staatsrecht4u.de/de/gg1_5.htm
(ganz unten)
Ahoi. Ein sanftes Veto am Abend: die herrenlos im letzten Absatz
von Rez-12 ausgesetzte Behauptung, ‚ALLES’ stecke in einem Text,
würde ich selbst mit der Gesamtheit aller grimmig dreinschauen-
den Literatursemiotiker im Genick so nicht unterschreiben wollen.
Vor einer halben Stunde ist in unserer Straße ein Laubstaubsauger
explodiert, und das kunterbunt vermoderte Chaos kam sehr viel
frischer daher als gewisse, völlig zu Recht noch original folienver-
schweißt verfaulende Neuerscheinungen in der Buchhandlung
schräg gegenüber:-)
Ansonsten vermisse ich in Rez-12 das Wort Begabung. Oder –
weniger wichtig und weihevoll daherkommend – handwerkliches
Talent. Gute Kritiker fangen sich sowas bekanntlich nicht wie
einen Schnupfen ein. Und es lässt sich nicht ungestraft herum-
kratzen an diesen Begriffen; irgendwann schimmert immer der
Erklärungsnotstand durch.
Das neben der Begabung nötige Werkzeug findet sich seit vielen
hundert Jahren prima in der Rumpelkammer der Literaturkritik:
formal, theoretisch, pragmatisch, autoren-, publikums-, genrebe-
zogen… (- und die Angelsachsen haben ihren Schuppen völlig
anders – heisst hier nicht besser – aufgeräumt! Lohnt vielleicht mal
einen extra Gedankengang).
Klar kommt das Rezensieren oft der Quadratur des Kreises
gleich, klar macht sich ein guter Kritiker (hoffentlich:-) diesen
und jenen und dann noch mal einen ganz anderen Kopf, klar
hantiert er vielleicht manchmal zeitgleich mit extremen Werten
(Spaß, Skepsis, gleich danach seitenlanger Ekel, dann, Hoppla!,
ein unverhoffter Genrewechsel auf Seite 23 unten), klar wägt
er ab, und wieder ab, und(…) – aber am Ende steht ein Urteil.
Eins, das nicht gleich umfällt, wenn der Wind aus der anderen
Richtung hustet. Mal treffsicher, mal komplexer formuliert –
und, zugegeben, immer eine Einzelmeinung. Nichts anderes
ist ja eine Kritik. Aber auf diese EINE hat man gewartet. So
einfach ist das.
Die kann spartanisch knapp ausfallen – ein Leser, dem Sprache
und Stil des Kritikers vertraut sind, wird sie in aller nicht ausbuch-
stabierten Ausführlichkeit verstehen können (Gaunerzinkenhaus-
türsprache:-) Und: Man weiß dann einfach, ob das Buch schlecht
geschrieben ist. Weiß, wie der Kritiker der eigenen Wahl, sagen
wir, die Funktion abgeschilderter Gewalt aus verschiedenen
Blickwinkeln beleuchtet hat. Weiß, was der misstrauische, hell-
wache, kluge Kritiker eigener Wahl davon hält.
Womit wir wieder beim Vertrauen wären. Ein Wort, an dem sich
ebenfalls nicht ungestraft herumkratzen lässt (see above). Beim
Konditor fürchte ich ja auch nicht, dass er heimlich in den Kuchen-
teig spuckt. Vertrauen zu guten Kritikern ist eine feine und funk-
tionale Sache. Nicht nur, weil es den eigenen Aufwand reduziert.
Es geht um die Dreingabe. Und wer die ausbuchstabiert
braucht, soll lieber dreihundertachtundzwanzigmal an die Tafel
schreiben: schlecht geschriebene Bücher lassen sich von gut ge-
schriebenen unterscheiden.
connie
Hallo, ihr beiden,
„aber am Ende steht ein Urteil. Eins, das nicht gleich umfällt, wenn der Wind aus der anderen Richtung hustet.“ – Der Clou ist aber genau der: Es fällt nicht um. Und ein anderes fällt auch nicht um. Sie bleiben alle stehen, weil sie nicht zu widerlegen sind. Geschmackssache? Ja doch. Aber Geschmack mit Begründung. Mehr machen wir nicht. Wir schreiben UNSERE Kritik und unterschreiben sie auch. Aber das ist gar nicht das Problem. Problem ist der immanente Exklusivanspruch. Was würdet ihr sagen, wenn ich eine Rezension mit den Worten beschließen würde: „So, das ist meine ehrliche Überzeugung, ich kann sie begründen, ich stehe dazu – aber wenn morgen Kritiker XY kommt und das Gegenteil behauptet, kann er auch recht haben“?
Im Krimijahrbuch 2006 (schon mal vormerken!) werden wenigstens zwei „Doppelrezensionen“ zu bewundern sein: einmal Daumen hoch, einmal Daumen runter (dass ich in beiden Fällen den Part des bad guy übernehmen musste, ist natürlich reiner Zufall…). Wie wird der Leser darauf reagieren? Irritiert? Wissend nickend?
„schlecht geschriebene Bücher lassen sich von gut geschriebenen unterscheiden“: Ach, das ist so eine Illusion, die ich auch mal hatte! Ich neige ja von Natur aus zur Sprachtrunkenheit, und wie jeder Abhängige erkenne ich alkoholhaltige Sprache auf 10 Kilometer und auch, der Herr sei gelobt, geschluderte. Bei Sprachschludereien klappe ich ein Buch zu, da brauchts keine zwei Seiten, und das wars dann. Aber „gut geschrieben“? Ich unterscheide zwischen angemessener und nicht angemessener Sprache, und als Beispiel fällt mir immer wieder Thomas Mann ein, den ich sprachlich überhaupt nicht mag (womit ich mich, danke Alfred Döblin, in bester Gesellschaft befinde), aber im „Zauberberg“ passt diese Sprache einfach, sie ist dem Inhalt angemessen. Oder Kafka. Der war kein „Sprachkünstler“, aber seine Sprache ist angemessen. Oder Musik. Es gab mal einen wunderbaren Tenor, der sich an Rockmusik vergriffen hat. Grau-en-haft! Und es gibt etwa „London Calling“ von The Clash, zwei, drei Akkorde, das entspricht etwa einem 200er Wortschatz, und das ist un-sterb-lich. Ich weiß aber nie per se, ob eine Sprache angemessen ist oder nicht. Ach ja, ganz aktuell: Jan Costin Wagner, „Schattentag“: furchtbare Sprache! hab ich da innerlich geflucht, so weinerlich-innerlich-neudeutsch-bachmannpreismäßig. Aber siehe: schreibt der Bursch ein ungeheuer gutes Buch und legt mich fast rein!
Aber das ist es: Ich lese ein Buch (und es muss nicht unbedingt ein „gutes“ sein, Thomas, die Nummer mache ich dir auch mit jedem schlechten) und ordne es nach meinem Deutungssystem. Und plötzlich merke ich: Hoppla. Ich könnte jetzt ja noch eine Rezension schreiben. Und noch eine. Und dann hab ich meine 99 und merke: Rezension 76 ist eigentlich „meine“, obwohl unbeabsichtigt, obwohl eigentlich ein ganz anderes Deutungsmuster. Dann hat sich etwas verändert. Und ich will verdammt sein, wenn Literatur nicht genau dazu auf der Welt ist: um den Leser zu verändern.
Und das mit dem Kuchenteig: Vielleicht spuckt dein Konditor ja wirklich rein? Und gerade diese Zutat ist es, die dir den Kuchen so gut schmecken lässt? Igitt, aber nicht unmöglich. Boah, das ist ja schon fast Rezensentenschule 13. Hör ich lieber auf, schon fällt mir für nächsten Montag nichts mehr ein.
bye
dpr
Guten Morgen connie,
„ Beim Konditor fürchte ich ja auch nicht, dass er heimlich in den Kuchenteig spuckt.“
Das bedeutet ja erst einmal nur, dass der Bäcker sauber arbeitet, aber deshalb müssen mir ja seine Produkte nicht schmecken… zuviel Zimt, zuwenig saure Äpfel…was auch immer. Einem anderen wiederum schmecken das ! Man kann sich (vielleicht) über Grundsätzliches einigen, aber die Schlussfolgerungen, wie alles sich zusammenfügt, bleiben subjektiv (Konditoreiwaren sind Deutungssysteme, meint dpr).
Alles eine Frage der Begabung schreibst Du.
Sicher, mitunter wenn ich eine Kritik und ihr Urteil über ein Buch lese, das ich selber kenne, denke ich mir, dass dieses oder jenes nicht in der Beurteilung miteinbezogen wurde [Beispiele spare ich mir aus Höflichkeitsgründen]. Solche Fehler gibt es.
Aber es gibt auch die Situation, dass ein Kritiker sorgfältig gearbeitet hat und trotzdem zu einer unterschiedlichen Bewertung kommt. So hat der von mir geschätzte David J. Montgomery bei seiner Kritik von Jeffery Deavers →„The Vanished Man“ eine ganz ähnliche Bewertungsbasis wie →ich . Beide stimmen wir recht gut darin überein, was Stärken und Schwächen des Buches sind. Aber während ich den Daumen eher senke, hebt er den seinen recht deutlich.
Hat er also recht, weil er der bessere Kritiker ist ?
Nö, nicht unbedingt, es gibt hier kein Richtig und Falsch. Er hat lediglich einen anderen Bewertungsmassstab, härter eben (beinahe hätte ich geschrieben amerikanischer).
Und hier sind wir denn bei dem von Dir genannten Vertrauen. Davon ausgehend, dass der Kritiker dem Buch gerecht wird, muss ich seine Vorlieben kennen, um seinem Urteil vertrauen zu können. Im Falle von David Montgomery bedeutet das, dass ich seine Rezensionen kritisch abscannen muss, ob sie mir Hinweise liefern, ob das Buch die von David geschätzte Härte aufweist oder darüberhinaus anderes Kriterien sein Urteil beeinflussen.
Mit besten Grüßen
bernd
hallo bernd, hallo dpr,
Fake-Rezensionen zur Förderung der freien Meinungsbildung:
das ist, als würde man das Fahrrad wegschmeißen und die
Stützrädchen behalten. Schlicht Quatsch, sorry. Mal ehrlich:
mündige Leser können die Balance im Buch ganz gut selber
halten und brauchen im Vorfeld deshalb keinen Kritiker, der
ihnen mit den Details seiner Deutungssysteme respektive
77,5 Rezensionsanläufen auf den Wecker fällt. Ein einziges,
vollständiges Werturteil genügt vollauf. Das hat für mich
auch etwas mit sicherem ad hoc-Instinkt, Gespür und vor
alle mit Mut zu tun. Zum Qualitätsurteil nämlich: man merkt
einer Kritik einfach den unsicheren Verfasser an, der
zwischen vielen Zeilen zu sehr damit beschäftigt war, an
seine Reputation als Rezensent zu denken…
Vielleicht habe ich ja eine völlig falsche Auffassung vom
Berufsbild respektive zu hohe Anforderungen, wenn ich er-
warte, dass der Kritiker präzis sagen kann, was er zu sagen
hat. Und den Krimi nicht zäh zerredet. Der Kitt, den so eine
professionelle Kritik zusammenhält, ist natürlich subjektiv,
schliesslich hat ein Individuum gearbeitet und kein Antwort-
automat. Aber wer das als private Geschmacksäußerung
kleinredet, tut so, als hänge die einzelne Stimme, die da
hörbar wird, im luftleeren Raum wie eine Comicsprechblase,
der man frech den Hintergrund wegretuschiert hat.
Gute Kritiken liefern aber ein Gesamtbild. Und der gewählte
Hintergrund (Humanismus, Moral, Menschenliebe…) ist hier nicht
aus Pappe.
Hallo Connie,
von Fake redet hier niemand. Auch nicht von 77,5 Rezensionsanläufen. Aber von der Scheinobjektivität, die jeder Rezension innewohnt, die „Vertrauen schafft“ und doch nur bedeutet, dass du Leser einen Rezensenten gefunden hast, der auf deiner Wellenlänge liegt. Ist ja in Ordnung. Nur: Darf man nicht, sollte man nicht den Prozess dieser Meinungsbildung auch einmal analysieren? Was dabei herauskommt, mag ja einigen Quatsch sein oder einfach nur langweilig oder einfach nur lästig. Wenn ich essen kann, muss ich nicht kochen können und schon gar nicht wissen, wie die Fischstäbchen in die Packung kommen. Mir ist auch klar, dass meine Auffassung von der im Grunde multiplen Rezension ein bisschen am Glauben von Objektivität kratzt (ui, jetzt muss ich aufpassen, dass ich nicht wie der Herr Janczyk psychologele!) – aber wir reden hier tatsächlich über „Geschmacksäußerungen“. Nur sind die eben nicht einfach so dahingeschrieben, sondern, bei fundierten Kritiken jedenfalls, begründbar und nicht wiederlegbar. Dieser Kontrast interessiert mich.
bye
dpr
Hallo dpr,
unter deiner Alternativ-Kritik zu ‚1974’ steht
‚Diese Rezension dient ausschließlich dem Ausbau der Meinungsvielfalt.
Sie ist negativ, weil alle anderen positiv sind. Sie wäre positiv, wären
alle anderen negativ.’
Das führt mich eindeutig auf die Fake-Fährte – und ein bisschen auch
in Richtung ‚Selbstverriss des Rezensenten’. Eine gewöhnungsbedürftige
Kombination, um dem Prozess der Meinungsbildung auf die Schliche zu
kommen. Das Vorhaben an sich ist davon unbenommen natürlich löblich.
Bei einer professionellen Kritik spüre ich aus dem Subjektiven immer
das Ideal höchstmöglicher Objektivität heraus – und das glaubhafte Be-
mühen des Rezensenten, diesem Ideal immer wieder so nahe wie
möglich zu kommen. An dieser Stelle scheiden sich dann unsere Geister,
dpr, denn für mich geht da das ‚Geschmäcklerische’ klar über in etwas
völlig anderes. Und es gibt eine Handvoll Kritiker in Deutschland, England,
Amerika und der Schweiz, denen ich in diesem Kontext vertraue – was
nicht heißt, dass meine eigene Meinung dann als deckungsgleiches
Puzzlestückchen daherkommt.
Connie
Hallo Connie,
die Peace-Alternativ-Rezension ist natürlich tatsächlich ein Fake und als solches ja auch gekennzeichnet. Ganze Passagen wurden ja auch wortwörtlich übernommen, nur einzelne Wertungen sind halt konträr zur eigentlichen Rezension. Aber, und das möchte ich betonen: Sie ist NICHT zu widerlegen! Und darauf kam es mir an. Ich wollte zeigen, dass du einen Text bildlich gesprochen nur ein wenig drehen musst, um einen anderen Blick darauf zu werfen. Das hat überhaupt nichts mit „geschmäcklerisch“ zu tun. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Rezensent genau eine solche „Alternativ-Rezension“ als SEINE schreiben könnte, nach bestem Wissen und Gewissen etc. Hintergrund ist der: Bei Peace geht es um Gewalt und ihre exzessive Darstellung. Als Rezensent finde ich, dass dies in diesem Fall legitim ist – aber ich winke deshalb nicht alles, wo exzessive Gewalt dargestellt wird, als legitim durch. Sondern könnte mir vorstellen, dass es nur kleinster Erschütterungen bedurft hätte, um auch im Falle von Peace die Sache völlig anders zu bewerten. Dann wäre meine Alternativ-Rezension meine „richtige“ gewesen.
bye
dpr
Hallo,
als kleine Ergänzung noch eine Bemerkung von David J. Montgomery zum Thema (http://www.crimefictionblog.com/). Unter der Überschrift „Can you trust book reviews?“ finden wir:
„The thing I always recommend to readers when it comes to book reviews is to spend a little time reading various critics until you find a person (or persons) who writes fairly frequently, seems to be someone you can trust, and has taste that’s similar to yours. If you can find someone like that, then their reviews can really be valuable to you. Just blindly picking up a review, though, without knowing anything about the critic isn’t nearly as useful.“
Mit besten Grüßen
bernd
Jau, keine Diskussion, so isses wohl. Aber: Nicht wundern, wenn der oder die, dem / der du vertraust, dich mal bitterlich enttäuscht. Verbindungen mit Kritikern sind wie Ehen: Es gibt Kräche, viele werden geschieden, man lebt nebeneinander her, missversteht etc. Und an Empfängnisverhütung denkt man auch manchmal.
bye
dpr
Ach nee, dpr: nicht auch noch die Abteilung Turnübungen!
Verschwitzt wird die These auch nicht vernünftiger. Aber klar: wenn schon das Buch zur Massenware verkommen ist, muss auch die Kritiker
/Leser-Beziehung ein bisschen schmuddelig geredet werden. Es geht
aber nicht um schal gewordenen Sex, sondern um Spannenderes:
Was man in all den Jahren verpasst hätte zum Beispiel. Was man gelernt hat stattdessen. Buchkritiker sind weder Bettgenossen noch Kumpel, sondern berufstätige Leute, denen man als Leser dann verdammt viel verdankt, wenn sie ihren Job ordentlich machen.
Klar bernd: geschenkt, die Sache mit den ähnlichen Neigungen. Aber
das ist ja bloß der Startschuss. In der Folge sagt der gute Kritiker
schon auch neue Sachen. unbequeme. oder verblüffende. Zeigt Ten-
denzen auf: gesellschaftliche, politische, literarische. Es ist nicht wie
in der muffigen Sicherheit einer alten Freundschaft, wo man sich bloß
Stichworte zuraunt und Meinungen schon lange nicht mehr überprüft
werden.
Der Kritiker untersucht ein Kunstwerk nüchtern und mit ruhigem Blick
auf seine Schwachstellen hin. Der Leser der Kritik ist Zeuge. Unter-
sucht wird, ob das Kunstwerk dem entspricht, was es vorzugeben
scheint. Untersucht wird, ob der Autor oder die Geschichte oder
alles zusammen verlogen daherkommt. Untersucht wird, ob das
Faktenmaterial stimmt (solche Wahrheit, dpr, lässt sich überprüfen).
Barbara Vine’s ‘the blood doctor’, beispielsweise beweist mit staub-
fusselpräzisen, jederzeit gegenrecherchierbaren Einblicken ins House
of Lords, wie verantwortungsbewusst die Autorin arbeitet. Das er-
kennt der gute Kritiker an, auch wenn er Barbara Vine auf den Tod
nicht ausstehen kann. Etc, etc. Mir übrigens wurscht, wenn’s dafür wieder was auf den Hut gibt.
Guten Morgen, Connie,
du hast ja so recht – in vielem jedenfalls, und ich will hier auch nichts in Schmuddelecken schieben, wiewohl die Ehe als solche ja keine ist, und das bisschen Turnübungen mit angezogener Handbremse ja auch nicht. Was ich am Rande zu bedenken gebe: Glaubst du tatsächlich, die Leseeindrücke eines Kritiker ließen sich in 50 bis 100 Zeilen so wiedergeben, dass er, der Kritiker, nicht gezwungen wäre, seine gewiss sorgfältige Arbeit wenigstens in einigen Punkten auf Signalwörter zu reduzieren, die dann, so liegst nun mal in der Sachnatur, beliebig und interpretierbar, um nicht zu sagen beliebig interpretierbar sind? Ist kein Vorwurf, sondern: so isses nun mal. Mach ich ja auch. Bei meiner Vargas-Rezension mal nicht, aber die war dafür auch ellenlang, und in einer Zeitung hätte ich das niemals bringen können.
Ach ja, off topic: Der an dich verliehene NP geht am Montag raus. Lässt du es mich kurz wissen, wenn er dich erreicht hat?
bye
dpr
Guten Vormittag dpr,
wow. Think we’ve a striking proof of the old saying:
‘squaring the circle is a troublesome challenge!’ Hier
werfe ich jedenfalls das Handtuch, bevor du mir in
einem unkonzentrierten Moment versehentlich noch
Recht gibst:-)
Im Gegenzug zum NP könnte ich dir übrigens Dibdins
hochinteressantes ‚Back to Bologna’ leihen. Im Mäntel-
chen harmloser Komik wird hier ein bitterböser Blick
auf das Zeichenhafte, Maskenhafte des Krimigenres ge-
worfen: wie geschaffen für dprs Sammlung stecknadel-
festgepinnter Deutungssysteme unter Glas:-) Vice-
Questore Zen (krank, beziehungsgeschädigt) kapituliert
hier komplett vor dem Absurden.
Beim ersten Durchgang hat mich der sonst so routinierte
Dibdin wütend gemacht, weil er ersichtlich kein Talent
für Screwball-Comedy-Timing hat. Beim zweiten Durch-
gang allerdings… -aber lies selbst, wenn du magst.
cheers
Connie
Nur gut, dass Handtuchwerfen noch nicht olympisch ist! Und „unkonzentrierter Moment“? Da kannste aber lange warten! Und meine Deutungssysteme sind eben NICHT stecknadelfestgepinnt unter Glas! Gegenteil! Das schwimmt alles in sich selbst, sozusagen, vexiert wie das menschliche Bewusstsein, wenn ich das mal so rein psycholiteraturtherapeutisch sein darf etc.
Auf Deinen Dibdin komme ich bei Gelegenheit zurück, wenn hier die Stapel etwas abgetragener sind. Klingt ja interessant. Ab Montag gibts ein bisschen hardcore-Rezensieren mit dem „Büchermörder“…bin selbst gespannt.
bye
dpr