Laura Lippman: Gefährliche Engel

Laura Lippman, so schrieb der Rezensent anlässlich des letzten Abenteuers ihrer Protagonistin Tess Monaghan, gehöre „zu den Lieferantinnen solider Spannungsware“. Dieses Urteil muss nach der Lektüre von „Gefährliche Engel“ revidiert werden: Denn nicht nur solide Spannungsware beschert uns die Autorin, auch fein ausgedachte Beobachtungen psychischer und weltlicher Kalamitäten hat sie im Programm.
Wobei das einzig leicht Ärgerliche an „Gefährliche Engel“ eben dieser deutsche Titel ist. Engel sind Alice und Ronnie, die beiden elfjährigen Mädchen nämlich nicht, gefährlich schon, denn sie entführen einen Säugling und töten ihn anschließend. Für diese Tat sperrt man sie sieben Jahre weg, Elfjährige, wohlgemerkt. Als junge Frauen werden sie in die Freiheit entlassen, doch als wiederum ein Kleinkind gekidnappt wird und sich herausstellt, dass sich die beiden Mädchen ganz in der Nähe des Tatorts aufgehalten haben, holt sie die Vergangenheit ein.

Das liest sich wie der Plot eines, noch einmal, soliden Spannungsromans, und genau das wäre es wohl auch geworden, hätte Laura Lippman nicht etwas anderes im Sinn gehabt. Die Geschichte wird aus den Blickwinkeln der Handelnden erzählt, alles Frauen, was kein Zufall ist. Die beiden Mädchen, Alices Mutter, ihre Rechtsanwältin, die Mutter des getöteten Säuglings, eine Detektivin. So entsteht das Bild einer Gesellschaft aus arm und reich, schwarz und weiß, aber eben nicht ein Bild aus den bekannten Klischees. Durchgehendes Motiv ist der Rassismus oder, sagen wir es genauer, die grundsätzliche Verachtung der jeweils anderen „Rasse“. Die Mutter des getöteten Säuglings gehört zur schwarzen Oberschicht, die beiden Mädchen eher zur weißen Unterschicht, der Großvater des Kindes ist ein einflussreicher schwarzer Richter, der alles aufbietet, die Mörderinnen seiner Enkelin nach dem Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen, die Anwältin lässt sich auf einen faulen Kompromiss ein.

Das alles ergibt ein merkwürdiges Szenario, in dessen Zentrum Alice und Ronnie stehen. Und Lippman beschreibt sie uns als verwirrte Geschöpfe, keine gängigen psychoanalytischen Muster glätten die Kanten, die Ermordung des Säuglings bleibt bis zum Schluss so unfassbar wie sie es nun einmal ist. Und dieser Schluss überhaupt: Er krempelt noch einmal alles um, enttäuscht die Lesererwartungen auf das Angenehmste, weil die Dinge eben nicht so sind, wie sie im glücklichen Lande Schablonien zu sein scheinen.

Lippman erzählt uns ihre Geschichte im Stil einer intelligenten, genau registrierenden Autorin, sehr flüssig und pointiert, wo es flüssig und pointiert sein soll, mit Widerhaken, wo sie helfen, das Thema zu packen und an die Oberfläche zu ziehen. Ein spannender Krimi: ja. Eine Bestandsaufnahme des disparaten Lebens und der Opfer, die es fordert: das ebenfalls. Also Fazit: ein weiteres Belegstück für Kriminalliteratur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten.

Laura Lippman: Gefährliche Engel. 
Rütten & Loening 2006. 394 Seiten. 19,90 €
(Original „Every Secret Thing“, 2003, deutsch von Ursula Walther)

5 Gedanken zu „Laura Lippman: Gefährliche Engel“

  1. Lieber dpr,

    das liest sich ja bereits wie ‚Spannung nach Maß‘ – ich dachte das käme erst morgen… Mal schauen, ob der Verlag auch mir ein Rezi-Exemplar rausrückt ?? Ist mir nicht zugeteilt, aber dafür wilder ich doch auch in fremdem Territorium. beste grüße – ana

  2. Die sollen dir das mal nicht zuteilen, liebe Ana! Das schenkt der Rezensent zu Weihnachten seiner Familie, morgen gibts eher was für die Kichererbsen unter uns.

    bye
    dpr

  3. Freut sich schon auf morgen. Wo ja doch die Araber viel näher dran sind, bei denen heißt das Humous, oder Hummus. Kommt also das Wort „Humor“ aus dem Arabischen?

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