Wären „Die unglaublichen Verbrechen des Dr. Petiot“ das Produkt einer Autorenphantasie, man würde das Buch mit spitzen Fingern anfassen – um es in den nächsten Papierkorb zu expedieren. Nichts ist eindeutig. Hat Dr. Petiot im von den Deutschen besetzten Paris der vierziger Jahre 20, 60 oder über 100 Menschen vom Leben in den Tod befördert? Wie hat er das überhaupt angestellt? Wer war Mitwisser? Warum verhalten sich Polizei und sonstige Staatsgewalt derart tölpelhaft? Warum widersprechen sich Zeugen so offensichtlich und ändern ihre Meinung so häufig und unbegründet? Ist ein Prozess, gegen den die Grotesken des „Königlich-Bayrischen Amtsgerichts“ wie Bilder aus dem Leben wirken, tatsächlich in der nüchternen Wirklichkeit vorstellbar?
Aber nein, dieses Buch des Amerikaners Thomas Maeder, bereits 1980 im Original erschienen, ist kein Phantasieprodukt. Das Leben selbst hat diese schauerliche Geschichte geschrieben und sich damit für alle Zeiten als Autor „der besten Geschichten“ disqualifiziert. Doch seien wir nicht ungerecht: Entstanden ist dafür ein absolut faszinierendes Buch menschlicher Unlogik und Konfusion.
Der Arzt Marcel Petiot ist verrückt. Das bescheinigt man dem Soldaten des 1. Weltkriegs gerne, er durchläuft diverse Irrenanstalten, studiert erfolgreich Medizin und bringt es zum Bürgermeister seiner Heimatgemeinde. Dort schon treibt er es bunt. Diebstähle werden ihm angelastet, Morde sogar, bewiesen werden kann nichts, für eine Amtsenthebung reicht es aber doch. Petiot geht nach Paris und eröffnet dort seine Praxis. Die Deutschen haben die Stadt besetzt, Petiot gibt sich als Mitglied der Résistance aus, ist bei den meisten seiner Patienten beliebt, weil aufopferungsvoll diensteifrig, Chef eines Schleuserrings sei er zudem, der bedrängten Emigranten, zumeist Juden, zur Flucht ins sichere Ausland verhelfe. Merkwürdig nur, dass man von diesen Menschen so gar nichts mehr hört. Dafür findet man im Haus des Doktors eines Tages die Überreste der Vermissten, nebst Bergen von Kleidungsstücken. Und jetzt beginnt das eigentlich Unglaubliche an diesen Verbrechen.
Sie sind von Anfang an surreal, weil ihr Hintergrund das Unglaublichste überhaupt ist, der größte Massenmord der Geschichte, auch in Frankreich, wo deutsche Nazis mit Hilfe willfähriger Behörden Hunderttausende von Juden fangen und deportieren. Petiot wirkt vor diese Kulisse wie ein kleiner Fisch, und genauso glitschig ist er auch. Er habe nur Verräter ermordet, behauptet er während des Prozesses, wobei nie geklärt wird, wie genau er das bewerkstelligt hat. Zeugen gibt es viele, aber die meisten sind völlig unglaubwürdig und gewaltige Lügner vor dem Herrn. Kaum etwas Faktisches kommt ans Tageslicht, die ermittelnden Behörden legen eine nicht zu fassende Unfähigkeit an den Tag. Pikant ist der Fall. Denn wenn Petiot wirklich Mitglied der Résistance gewesen sein sollte (es wird natürlich nie ganz geklärt), dann waren seine Taten patriotisch. Ansonsten ist er ein Monster, auf jeden Fall aber ist er verrückt, ein schlagfertiger, witziger Verrückter allerdings, wie sich bei der Verhandlung zeigt, die nun dem Ganzen die Krone aufsetzt.
Petiot maßregelt den Richter, der Verteidiger hält bevorzugt Nickerchen, die Anklage ist schlecht vorbereitet. Komödienstadel. Der psychologische Gutachter wird von der Verteidigung ins Kreuzverhör genommen und klassisch humoristisch vorgeführt:
FLORIOT [Petiots Verteidiger]: Sie scheinen viele Dinge anzudeuten, für die Sie keinen Beweis haben. Sagen Sie mir, Sie haben auch Petriots Familie examiniert. Wie fanden Sie seine Schwester?
Gouriou [der Gutachter] zögerte. „Sie ist ziemlich normal.“
FLORIOT: Sind Sie sicher?
GOURIOU: So sicher, wie ich nach einer kurzen psychiatrischen Prüfung sein kann.
FLORIOT: Ja, die Psychiatrie ist schon eine Welt für sich. Petiot hat keine Schwester.“
Am Ende wird Petiot von den Geschworenen zum Tode verurteilt, die Indizienlast ist zu erdrückend, sein Kopf fällt in den Korb bei der Guillotine. Der letzte Satz lautet: „Petiot lächelte“. Und wir Leser haben unseren Spaß gehabt und uns an den Unzulänglichkeiten des Authentischen gelabt, so schlimm das auch alles im Detail gewesen sein mag. Ein amüsant schreckliches Buch, eine erhellende Lektüre.
dpr
Thomas Maeder: Die unglaublichen Verbrechen des Dr. Petiot.
Semele Verlag 2006
(Original: „The Unspeakable Crimes of Dr. Petiot”, Atlantic Monthly Press 1980, Übersetzung: Martin Burckhardt).
336 Seiten. 21,90 €
Lieber dpr, nun sitze ich seit um 5 hier am Schreibtisch und beschäftige mich mit der Darstellung der heteropaternalen Superfekundation in der deutschen Literatur um 1800 — und im Hinterkopf immer die Spannung: welchen Fall wird er wohl vorstellen. Petiot also, von Maeder. (Wenn irgendwo von ‚unspeakable crimes‘ die Rede ist, suche ich immer nach Spezialbibliogaphien: die StaBi in Berlin wirft 83 Titel aus, die BNF-Ergebnisse hab‘ ich nicht kollationiert.) Und nun lassen Sie mich doch mit dem Rätsel sitzen, was die „Unzulänglichkeiten des Authentischen“ sind? Vielleicht, daß man am Ende der Lektüre so klug ist wie zuvor? Oder, wie Döblin sagt: „Überblicke ich das Ganze, so ist es wie in der Erzählung: ‚da kam der Wind und riß den Baum um.‘ Ich weiß nicht, was das für ein Wind war und woher er kam. … Die meisten Seelendeutungen sind nichts als Romandichtungen“. Anders gesagt: Man könnte die ‚wahren‘ (authentischen) Geschichten von den fiktionalen nur dann unterscheiden, wenn sie die Lösungen verweigern. Und genau an dem Punkt irren die meisten True-Crime-Autoren. Maeder, wie es scheint, nicht. Dann hätt‘ sich das Warten ja gelohnt.
Beste Grüße!
Die „Unzulänglichkeiten des Authentischen“, lieber JL, sind genau das: Das Verweigern der Gewissheit. Dass Petiot die Morde letztlich aus Habgier begangen hat, tendiert als Erkenntnis gegen „sicher“, aber der letzte fiktionale Schliff (etwa ein Geständnis, eine lückenlose Rekonstruktion) fehlt. Tatsächlich ist das Problem des Authentischen immer das Problem des Fiktionalen. Beide sind eben nicht die Kontrapunkte, als die man sie gerne hinstellt, hier dieses, dort jenes. Bestes Beispiel – hier Döblin aufnehmend – ist wohl Sigmund Freud, der Seelenromancier. Natürlich will auch Maeder „die Wahrheit“ entwickeln, er kapituliert jedoch sofort vor den Unzulänglichkeiten des fiktiven Apparates, der ihm laut Krimigesetzgebung zur Verfügung steht. Man kann „das Authentische“ aber gar nicht anders als „fiktiv“ entwickeln und es gelingt nur, wenn am Ende der Erkenntnisgewinn als Gewissheitsverlust steht. Aber dazu bald mehr—ich muss endlich mal ein paar Arbeitsthesen formulieren—die Zeit drängt—
bye
dpr
fern sei es von mir, lieber dpr, Sie in Ihrem Entwicklungsfuror zu bremsen! Aber was wir uns da grad bestätigt haben, ist die herrschende Meinung in der Literaturwissenschaft. Hier z. B. Nochmals Grüße!
Danke, lieber JL, den Text hab ich auch schon verwurstet…aber Authentizität im Krimi ist eine reizvolle Variante, weil auf mehreren Ebenen stattfindend. Lassen Sie sich mal überraschen, ich lass es mich auch.
bye
dpr
der umschlag ist gut.
*brrrrrrrrrr
sehr amüsant, dass ich dieses Buch hier rezensiert finde (zeugt von gutem Geschmack).
Das Interessante an dem Petiot-Fall und an der Art, wie Maeder ihn behandelt, scheint mir nicht so sehr zwischen den Polen authentisch-fiktiv zu oszillieren als vielmehr zwischem dem, was geschieht und der Art, wie es diskursiv behandelt wird. Die Leichen, die man in seinem Keller findet, sind unabweisbare, freilich „nichts-sagende“ Realität – und die Frage ist: wie verhält sich der Diskurs dazu? Wie kann man das Unbegreifliche begreiflch machen?
Aber genau dazu kommt es ja nicht, sondern man sieht vielmehr, wie sich über das opake Geschehen eine Art Disursschicht schiebt, die mit den Taten nicht das Geringste zu tun. Nicht zuletzt auch deswegen, weil Petiot hier eine gewichtige Rolle spielt, bringt er es doch fertig, seinen Prozess als „politischen Prozess “ zu inszenieren.
Immer wieder, und lange bevor er als Massenmörder ins Gesichtsfeld rückt, wird Petiot zum Gegenstand von psychaitrischen Untersuchungen – und wahrscheinlich hat es, wie der Autor schreibt, keinen besser anaylsierten Mörder gegeben als ihn. Aber genau hier beginnt ja das Ungeheuerliche. Petiot ist dazu imstande, sich all diese Diagnosen zunutze zu machen, ja, er bringt es fertig, aus der Diagnose als „Teilzeitirrer“ einen möderischen Mehrwert zu schlagen. Als „interné“ in einer Irrenanstalt gesessen zu sein, daraus später aber dn Ehrentitel eins „interne“ (Assistenzart) zu machen, mit dem man renommieren, das verrät nun wirklich eine Chuzpe, die sprachlos macht.
Das ist vielleicht das Verstörendste an der Lektüre: dass man irgendwann diese aberwitzigen Ungeheuerlichkeit lustig zu finden beginnt.
Der Diskurs, liebe Carina, erhält seine Qualität natürlich auch durch die historischen Umstände. Einerseits das Größt-Verbrechen, als dessen Nutznießer der „ungeheuerliche“ Dr. Petiot hervorgeht, die unzähligen Opfer des Holokaust. Dann die Trennlinie „Mord“ und „Heldentat“, die unscharf genug ist. Verräter darf man aus patriotischen Gründen töten, und wenn Petiot nachweisen kann, dass er Verräter getötet hat, ist er eben ein Held. Petiots Strategie bei der Verhandlung ist ja auch immer drohend, er weiß, dass er auch von Kollaborateuren, Verrätern also, verurteilt werden wird, dass niemand so genau wissen will, wo die Guten und wo die Schlechten standen. Das Ganze ist auch unglaublich detailverliebt, bei der Sache mit dem Hut etwa, der in einem der Koffer gefunden wird. Und so weiter. Das macht das Grauen in der Tat witzig, bizarr.
bye
dpr
ja, klar, das politische Umfeld bietet natürlich, wie der Anwalt Verron sagt, die perfekte Tarnung. All die Leute, die nicht nur verschwinden, sondern ihre eigenen Spuren verwischen, die Kleidermarken aus ihren Kleidern entfernen… Aber dennoch gibt’s diese Vorkriegsgeschichte, wo der Bürgermeister Dr. Petiot in dem kleinen Ort sein Unwesen treibt – und hier die absurdesten Dinge anstellt. Z.B. dass er sich als Amtsarzt akkreditieren lässt – und diesen Titel nutzt, um die Schubladen der just Verstorbenen zu leeren. – Und auch hier schon ist die Umwelt ja unfähig, diesem Trieben Einhalt zu gebieten. – Ich glaube, das Novum an Petiot besteht darin, dass er nicht nur seine Perversionen auslebt, sondern so intelligent ist, stets auch die Deutungshoheit über sein Tun zu gewinnen – was mir ja der eigentliche Grund für seine politische Karriere scheint.
Deuten: das ist natürlich ein Stichwort. Petiot wirkt ja im Prozess nicht nur souverän; wenn er etwa die Funktionsweise von Plastiksprengstoff erklären soll, mit dem er angeblich hantiert hat, aber es nicht erklären kann. Petiot zimmert sich seine eigene Logik und niemand kann sie ad absurdum führen. Während seiner Bürgermeisterzeit nicht nur deshalb,weil diese Logik so blendend wäre, sondern weil die Leute von anderen Dingen abgelenkt sind: angeblichen politischen Intrigen, Petiots aufopferungsvolle Arzttätigkeit etc. Hier werden pausenlos Geschichten erzählt, mit anderen Geschichten vermengt, widerrufen, neu erzählt. Das geschieht ja auch, weil die Realien, sobald man sie deutet, zu Fiktion werden. Und auch, wenn man sie nur aufschreibt.
bye
dpr
Liebe Carina, lieber dpr, das seh‘ ich auch so: mindestens bei Verbrechen (ob z. B. auch bei Krankheit, kann ich nicht recht sagen) führt die Unterscheidung fiktional/authentisch in die Sackgasse. Statt dessen: je medienspezifische Erzählverfahren, die sich gegenseitig aufnehmen und transformieren (denn Verbrechen ist eben nur narrativ — und d.h.: medial — zu haben, das ist schon der verdeckte Clou bei Jolles).
Wir sind heute verdächtig oft einer Meinung, lieber JL. Ich werde dafür sorgen, dass sich das morgen wieder ändert.
bye
dpr
Einigkeit macht stark, is aber langweilig (aber ein schönes Beispiel für das, was wir womöglich beide meinen, das findet sich auf dem Harbort-Thread Ihres wundertütigen Hinternet-Wtd-Blogs). Aber ich hab‘ jetzt Hunger und außerdem warten die Biographien der Wahnsinnigen auf mich (re: heteropaternale Superfekundation). Schönen Abend!
@JL, ja, in der Tat, ich fand diese (literarische) Strategie absolut interessant: Weitgehende Räumung des Autorenpostens, stattdessen – fast positivistisch – die Bereitschaft, die „Fakten sprechen zu lassen“. Aber die Fakten, wie man weiß, sprechen so wenig wie das Leben selbst schreiben kann, folglich hat man’s mit berufsmäßig aufbereiteten und in gewisse Schemata eingebundene Textbrocken zu tun, der „deformation professionelle“. – Wie ich dem Interview von Maeder habe entnehmen können, hat er sich diese Zurückhaltung sehr bewusst auferlegt. Wahrscheinlich ist die Wirkung des Textes: Man bekommt Fetzen, die allesamt nicht zusammenpassen. Und doch gibt’s einen, der mit alledem souverän zu spielen weiß: Dr. Marcel Petiot. Der in diesem Falle, allen Literaturtheoretikern zuliebe, die Rolle des auktorialen Erzählers einnimmt (was wohl der ganze Sinn der Serienmörder-Hypes ist).