Ein Toter mit vielen Gesichtern

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(Kommissar Wickius kennt die Verbrechens- und Kriminalliteratur der letzten ca. 2500 Jahre in- und auswendig, er löst jeden Fall, indem er das literarische Muster dafür sucht. Und Sie? Wissen auch Sie, welche klassischen Fälle den hier in loser Folge geschilderten Mordtaten zu Grunde liegen? Dann nichts wie ran an die Kommentarfunktion! Für alle Unbelesenen gibt es die Auflösung immer ein paar Tage nach der Veröffentlichung der Geschichte.)

Das also war die vielgerühmte Gemütlichkeit der Berge! Wickius entließ einen gutturalen Ton, den nur Kenner seiner Psyche für den Ausdruck tiefsten Unbehagens, alle anderen hingegen für einen verzeihlichen Rülpser nach gutem Essen ästimierten. Tatsächlich aß man hier im Dorfgasthof nicht schlecht. Das Gemüse, hatte die Wirtin stolz angemerkt, komme aus den Treibhäusern der nahegelegenen Besserungsanstalt. Eine Frau, dies sagte sich Wickius insgeheim, wie sie die Typologie jener Bergbewohner zweihundertpfündig auf den Punkt brachte. Er hockte jetzt seit zwei Wochen hier. Er, wegen einer Internetaffaire zunächst aus dem Dienst ausgeschieden, dann als Krankheitsvertretung befristet reaktiviert und nun, „zur Bewährung“ und zum Oberinspektor degradiert, wieder eingestellt, um die rückständige Polizei dieses öden, von schneebedeckten Bergen, abgegrasten Almen und extragroßen Blasinstrumenten dominierten Landes auf den neuesten Stand des kriminalistischen Wissens zu bringen. Hier hockte er nun. Inmitten seiner Zuhörerschaft, vier vollschrötigen Männern, denen moderne Ermittlungstechniken beizubringen waren – ein hoffnungsloses Unterfangen, das hatte Wickius sehr schnell erkannt.

„Meine Herren“, begann er seine heutige Unterrichtsstunde, „die Wiedergabe des Faktischen gehört zum Rüstzeug eines effektiven Polizeiapparates. Klare, unzweideutige Aussagen; plastische, jedoch nicht der Phantasie geschuldete Beschreibungen. Wie steht es bei Ihnen mit dieser Kunst?“

Die vier Angesprochenen lauserten verlegen auf ihren Stühlen, einer, ein besonders dicker, stand kurz davor, mit seinem prallen Gesäß von der Sitzfläche zu rutschen, ein unabwendbares Ereignis, dem Wickius mit steigender Schadenfreude entgegensah.

„Also“, fuhr er fort, „mir ist zu Ohren gekommen, dass sich hier vor wenigen Tagen ein Mord ereignet hat. Sie da –“ – er zeigte auf einen sehr schmalen, von Alkohol- und Drogenmissbrauch ausgezehrten Beamten, „erzählen Sie uns doch einmal die Fakten.“

„Na ja“, begann der Angesprochene umständlich, „es ist wohl so gewesen, dass der Verstorbene, welcher im Hauptberuf Hausierer war, am Rande des Wäldchens, dort wo die Straße…“

Weiter kam er nicht, denn der Dicke, der sich erstaunlicherweise noch immer auf dem Stuhle hielt, fiel ihm ins Wort. „Geh! Was erzählt er da für einen Unsinn! Hausierer soll der gewesen sein! Und ermordet gar! Mitnichten! Es war ein reicher Mann, aber auch ein ganz schlechter Mann, ein Monster, und nicht ermordet wurde er, sondern ein Autounfall hat ihm die gerechte Strafe zugeteilt.“

„Woher beziehen Sie Ihre Informationen?“ wollte Wickius wissen.

„Nun, der Tankwart halt. Der Tankwart hat mir alles erzählt. Ganz närrisch vor Freude war der, ja, darauf warte er seit Stücker 50 Jahren, dass diese Bestie endlich…“

„Pappalapp!“ meldete sich nun der dritte Beamte, dessen Äußeres Wickius fatal an den irischen Dramatiker Beckett erinnerte. „Nix Mord, nix Autounfall! Selbstmord wars, aber wie Mord sollte es aussehen, damit wir den Schwiegersohn einkassieren!“

„Ha!“ lachte da der Vierte, ein stattlicher älterer Mann mit respekteinflößendem Bart. Ein Angeber auch, denn er reklamierte „umfangreiche juristische Kenntnisse“ für sich, war jedoch, wie Wickius aus den Personalakten erfahren hatte, vor Jahren ins Land eingewandert, weil man ihn in seiner Heimat wegen mancher Unbotmäßigkeit ins Zuchthaus hatte sperren wollen.

„Der Tote war – glauben Sie einem erfahrenen Juristen, verehrter Herr Dozent – niemand anderer als ein gewisser Student, der in ebenso gewissen Kreisen auswärtiger Linker und Denunzianten verkehrt hatte, ja, wohl zu letzteren gehörte und deshalb, wahrscheinlich in der Nacht, an einsamem Orte ermordet wurde.“

Wickius hatte die Schnauze voll. Wie sollte man diesem Haufen modernes Ermitteln beibringen? Das waren keine sorgfältig recherchierenden Beamten, nein, das waren ja fast – Krimischmierer! Er wollte schon zu einer scharfen Rede ansetzen, als sich sein Gehirn plötzlich eines Besseren besann. Natürlich! So war das! Er betrachtete die vier vor sich mit anderen, durchaus wohlwollenden Augen und lehnte sich zurück. Merkwürdiges Land, dachte er, in dem die Kriminalromane lebendig durch die Gegend laufen.

38 Gedanken zu „Ein Toter mit vielen Gesichtern“

  1. …würd ich vielleicht schon, aber nicht hier und heute, weil da Wolf Haas nun rein gar nicht passt. Schon geografisch nicht. Ich geb ja zu, der vierte ist sauschwer…drei Richtige sind ganz okay für Semiprofis.

    bye
    dpr

  2. Ich geb dir „Semiprofis“. Ich bin doch Amateur! Du Beleidiger!

    Ich denke, das vierte ist der Beckett-Fall. (Hätte ich mal „Mord im Alpenglühen“ gelesen. Nu isses zu spät.)

    dpr. Noch einen Hinweis, bitte.

  3. Daheim. Die konnte nicht mitfahren, weil sie einen kranken Mann und vier kleine Kinder zu versorgen hat. Nächstesmal vielleicht wieder, mal sehen, wohin es W. dann verschlägt. Das heißt: Ich weiß es ja schon. Wird ganz leicht. Wenn man das richtige Buch gelesen hat.

    bye
    dpr

  4. Stimmt, Georg! Hättste mal nur „Mord im Alpenglühen“ gelesen! Da steht der Beckett nämlich ganz groß drin! Aber das Buch kann man sich ja zu Weihnachten noch schenken lassen, →hier gibts das. Also fleißig bestellen, dann schenkt mir der Miersch zu Weihnachten einen KrimiKritik-Kugelschreiber!

    bye
    dpr

  5. wenn sie einen mann und vier kinder hat – die assistentin – ist die „erotische komponente“ von „wickius ermittelt“ hin.
    *merkt an

  6. @Anobella: Stimmt. Wickius kriegt demnächst eine neue Assistentin, mann- und kinderlos, schreibt nach Feierabend Winzer(!)krimis und liest Wolf Haas,wenn sie nicht gerade in fremden Manuskripten rumkritzelt.
    @Georg: Was, Bester, willst du mit einem NAMENSregister, wenn du den Namen der gesuchten Person nicht kennst? Tipp: Der Titel des gesuchten Werkes besteht aus zwei Wörtern, das erste ist „Die“, das zweite ist ein Substantiv (hast du dir fast gedacht, ich weiß) und etwas ungewöhnlich. Zweiter Tipp (heißt: zweiter Kugelschreiber): Das Buch wurde jüngst wieder aufgelegt, im Rahmen einer Werkausgabe.

    bye
    dpr

  7. Gelesen hab ich’s nicht, aber ich rate mal: „Die Schattmattbauern“ von Loosli. Die 99 Krimis meiner Wahl bitte an meine wohlbekannte Adresse. Danke. Kugelschreiber schicke ich gleich los.

  8. Ich hätte halt unter „Beckett“ nachgesehen… (Hihi: und nix gefunden.)

    Anobella als Krimiassistentin. Das fände ich toll. (Wenn sie das nicht will, können wir zwei ja wieder ihren Blog zupflastern, wenn sie nicht da ist.)

  9. Hm. Das war ja ein ziemlich planloses Rumstochern im Nebel schweizerischer Kriminaldichtung. Obs wohl stimmt? Wer kanns bestätigen? Wer widerspricht?

    bye
    dpr, der nie im Leben 99 Krimis nach Karlsruhe schickt

  10. Preview Wickius, the next case:

    „Anna Beller, der Jahreszeit angemessen in feines Rindsleder verpackt, hatte in ihrem Leben schon viele miese Jobs annehmen müssen. Der als Aushilfskommissarin bei der Kripo Wiesbaden war aber der mit Abstand mieseste, wenn man von den neun Monaten Schwangerschaftsvertretung im Nonnenkloster Neuruppin einmal absah.(…)

  11. Ich möchte darauf hinweisen, daß Neuruppin komplett nonnenklosterfrei ist – sogar das einstmals zur Klosterkirche gehörige Männerkloster ist abgewickelt. Kirchenkrimischreiber gibt’s hier ebenfalls gottlob nicht (muß doch mal gesagt werden!)

    Lokalpatriotische Grüße

    GG

  12. Uh, sollte mir „Neuruppin“ deshalb so willkürlich in die Tastatur gesprungen sein, weil ich gerade Ihren KJB-Beitrag formatiert habe? Wird wohl so sein! Aber wenn ich „Altötting“ nehme, regt sich wieder der Kollege Bernd auf. Nehm ich halt: Oberammergau.

    bye
    dpr

  13. Kollege Kochanowski regt sich nicht auf !

    Er möchte halt nur wissen, welchem der hiesigen Klöster die Ehre zu Teil wurde – und bist Du sicher dass es keine Schwangerschaftsvertretung beim Seraphischen Liebeswerk war.

    Beste Grüße

    bernd

  14. Jjjjjein. Du hast „Das Versprechen“ UND „Der Richter und sein Henker“ genannt, aber nur ein Titel wird erwähnt. Ersterer natürlich (Tankwart, Mörder verunfallt). Das ist dann leider nur der Sind-Sie-eigentlich-noch-bei-Trostpreis, eine Reise nach Karlsruhe inkl. Stadtführung und Übernachtung beim Karlsruhekenner Patzer (plus ZEN-Frühstück). Glückwunsch!

    bye
    dpr

  15. Wurde auch nie behauptet. Aber dieses Blog ist der Darwinschen Lehre verpflichtet: Entweder machst du alles richtig oder du gehst den Bach runter und bist nur noch Geschichte. Sorry.

    bye
    dpr

  16. Lieber dpr,

    lass uns doch mal über Darwin reden !

    Ich will auch nicht übetrieben kleinlich sein, aber dass Kern der Darwins Lehre das Maximierungsbebot ist, scheint mir nicht ganz richtig zu sein.

    Deine Chancen als Species in der nächsten Generation fortzubestehen, steigen wenn Du besser bist. „Survival of the fittest“ ist komparativ angelegt !

    Cui honorem, honorem: Georg hatte offensichtlich einen erfolgreichen Frühstart hingelegt und besser (!) als alle anderen Beiträger sich Deinem literarischem Vexierspiel genähert.

    Beste Grüße

    bernd

  17. Ja, Bernd, das mit den Fittesten stimmt wohl. Aber Georg ist eben der Fitteste auf einer Insel der Unfitten, er stolziert herum – „I will survive!“ – und dann kommt plötzlich ER auf einem Stück Treibholz übers Meer gepaddelt: ER, der Vollfitte – und Georg springt krimikennerisch in die Kiste und macht den Deckel zu. Das ist Darwin! Aber wer ist ER?

    bye
    dpr

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