Deutsche Wertarbeit. Ein Mordfall wird ausermittelt, ein wenig Regionales sorgt für Atmosphäre, man hat private Probleme und sehr, sehr viele tiefe Gedanken. Das alles in einer Sprache, die auf merkwürdige Weise Marshall McLuhans legendäre Identifizierung des Mediums als Botschaft variiert. Die Botschaft: Kümmert euch nicht um das Medium, fragt euch einfach, wer der Täter ist, oder lasst es bleiben, ich sag es euch eh.
Ein junges Mädchen, Kira, verbringt eine Nacht in der Nähe ihres Pferdes auf der Weide. Ein „Pferderipper“ treibt sein Unwesen in der Gegend, Kira möchte ihn stellen. Es kommt anders, es kommt wie erwartet. Am nächsten Morgen liegt Kira tot in einem Bach.
Kommissar Arno Hennings übernimmt die Ermittlungen. Sie führen ihn zum Celler Landgestüt, wo Kiras Vater arbeitet und einige andere Personen mehr, die nach und nach ins Fadenkreuz geraten. Ein alter Vorfall wird wieder aktuell, familiäre Abgründe tun sich auf. Andree Hesse erzählt seine Geschichte in etlichen, durchaus genregemäßen Windungen, die Auflösung ist überraschend, realistisch, wenn man die Grenzen des Realen großzügig zieht. Nun gut.
Früher einmal standen die Verbrechen im Mittelpunkt von Kriminalliteratur. Die Verbrechen, die Opfer, die Täter, die Umstände. Das ist lange her. Heute ist es so: Arno Hennings wird Vater. Das heißt: wahrscheinlich. Sein Bruder Philip ist aus den USA, wo er als Studiomusiker arbeitet, zu Besuch kommen, wird mit seiner Band eine kleine Clubtournee unternehmen und Pink-Floyd-Stücke als Blues spielen (Dies eine schreckliche Vorstellung, aber das nur nebenbei). Ein Kollege Hennings’ sitzt zudem in der Schuldenfalle, muss mit guten Ratschlägen („Alkohol ist auch keine Lösung.“) wieder aufgerichtet werden. Wir erfahren also recht viel über Herrn Hennings, nehmen an seinen Gedanken teil (Werde ich jetzt Vater? Werde ichs nicht? Will ichs? Will ichs nicht? etc.), versinken in den Reminiszenzen an die gemeinsame Kindheit von Arno und Philip etc. – schön.
Aber dabei bleibt das übrige Dramatis Personae so ziemlich auf der Strecke, was deshalb schade ist, weil doch diese Menschen mit dem Verbrechen und seinen Umständen verknüpft sind, Täter sind, Opfer sind, das also, worum sich alles drehen sollte, was man auszuloten, zu bemessen hätte. Stattdessen: Arno Hennings denkt, Arno Hennings grübelt, Arno Hennings macht hochbrisante philosophische Entdeckungen:
„Dabei fehlte sie ihm schon jetzt. Wie damals, als sie den Unfall hatte, wollte er an ihrer Seite sein, um sie … ja, um sie zu beschützen, auch wenn es jetzt dafür eigentlich keinen Grund gab. Seltsam, dachte Arno, wie Trauer und Freude sich letztlich ähnlich sind in ihren Erscheinungsformen.“
Nicht dass sich „Das andere Blut“ nicht „gut“ lesen ließe. So gut eben, wie man es von einem Durchschnittskrimi aus deutscher Produktion inzwischen erwartet. Die Sprache, das Medium, ist belanglos und fügt sich in die Philosophie der Informationsgesellschaft: userfreundlich ist sie halt, eine funktionelle Software mit hohem Bedienkomfort und jener „corporate identity“, die einem die Wörter ohne große Anstrengung ins Gehirn liest und wieder aus ihm heraus. Das ist so spannend wie jede „Google“-Suche, so anstrengend wie das Neuanlegen eines Word-Dokuments, so faszinierend wie die Welt der Buttons und Links, auf die man mechanisch klickt und die einen akkurat dorthin bringen, wo man hinwollte: zum Ende, wenn es wieder einmal heißt: DER war’s!
Geschichten um Mord und Totschlag, die Gefahr laufen, sich selbst zu banalisieren. Sprachlich normverpackt, garantiert ohne Nach- und Nebenwirkungen.
Andree Hesse: Das andere Blut.
Wunderlich 2006. 412 Seiten. 19,90 €
„ausermittelt“? heißt das so?
frägt westfälisch deftig und mit einem Hang zur Literatur der Celler Gegend
Georg
Das „ausermittelt“ ist mir auch gleich ins Auge gefallen. Aber vorallem die „sehr, sehr tiefen Gedanken“, die mir sehr typisch für den deutschen Durchschnitt äh Krimi erscheinen. Etwas weniger Gedanken und etwas mehr Intelligenz täten ganz gut.
Und wann verstehen die Autoren, daß das Privatleben der Ermittler nur dann interessant ist, wenn es einen Einfluß auf die … Ermittlungen hat?
LG
barb
*liest Boston Teran, der hat’s verstanden und dabei gibts auch noch eine zu den Ermittlungen passende USA-Kritik dazu.
Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist Norbert Horst für diese Bereicherung meines Wortschatzes verantwortlich. Oder Astrid Paprotta? Oder beide? Irgendwo habe ich dieses „ausermittelt“ aufgeschnappt und finde es eine schlüssige Formulierung. Die sammelt unsereiner wie damals der komische Kauz in der Nähe von Celle, nach Osten die Stadt raus und dann in Eldingen links ab.
bye
dpr
Und der (der Kauz) in Hesses erstem Band auch vorkommt, wo er erklärt, warum sein Held mit Vornamen Arno heißt. – ? – Genau!
(aber, Barb: das muss nicht mehr Ermittlungen, sondern Ausermittlungen heißen)
Jo, stimmt, Georg. Aber das gibt bei mir keinen Bonus…auch die Erwähnung der Allman Brothers Band nicht.
bye
dpr
Ausermittelt ist fertig ermittelt, dann machen sie Schluss. Das ist das Deutsch der Staatsanwaltschaft, nicht meines.
Und was da oben steht – „daß das Privatleben der Ermittler nur dann interessant ist, wenn es einen Einfluß auf die … Ermittlungen hat“, ist sehr wahr.
Kyrill ist hier! Schlägt jeden Krimi.
Ja, Kyrill stoibert ums Häuschen, aber keiner lässt ihn rein… Schön finde ich auch, was mir mal ne Verkäuferin im KARSTADT gesagt hat: Die schwarzen Jeans haben wir leider schon ABVERKAUFT. Also nicht einfach verkauft, ab-verkauft. Oder im Zug gehört: „Ich muss am Samstag 4000 Euro Umsatz DREHEN.“ Hm. Warum drehen, das habe ich noch nicht ausermittelt.
bye
dpr
Ich könnte noch ein paar schöne Wort-Weiterungen aus dem Bereich der Berliner Sicherheitsbehörden beisteuern. Hier sterben d’Lait nicht – diese versterben; Personen sind auch nicht – diese befinden sich bzw. sind (sich) befindlich; und was hier alles nicht geliefert, sondern aufgeliefert wird – Akten, Informationen, Einladungen…
Ein ausermittelter Fall ist einer, dessen Akten entweder vollständig sind, also der Staatsanwaltschaft aufgeliefert werden können, oder bezüglich dem auf absehbare Zeit keine weiteren Ergebnisse gefertigt werden können, weil zeitnah oder zügig keine neuen Beweismittel aufgefunden werden können. (Zahlr. Tötungsdelikte VOR der DNA-Routine zB.) Endgültig zugeklappt werden sie nicht, sondern regelmäßig wieder vorgeholt und überprüft. Zumindest wenn’s um Tötungen geht (die verjähren nicht). Und wo wir gerade dabei sind: Eine durchschnittliche heutige Mordermittlungsakte ist meterlang – wenn man nur die Ordnerrücken ausverrechnet.
„Besides, life is an exercise in controlled despair.“ (Robin Cook aka Derek Raymond)
Herzlich aufstoibernd und vergrüßend – P. (Bello-Beauftragte von St.Kyrill)
Ich kenne von einer Redakteurin noch den Spruch: „Dafür sind Sie doch vorprädestiniert.“ Also z.B. für einen Artikel über Arno Schmidt.
Oder von Flann O’Brien: „Es genügt nicht, wenn Sie die Zeitung bestellen. Sie müssen sie vorbestellen.“ In einer seiner Kolumnen Cruiskeen lawn (oder so ähnlich) kommt das vor.
Das Polizeideutsch gibt sich ja auch nicht damit zufrieden, wie TV-Ermittler danach zu fragen, ob diese Wiese, auf der ein Toter (ein Geschädigter) liegt, auch der Tatort ist. Man fragt in der konkreten Auffindesituation nach der Ablebensörtlichkeit.