Kapitel I

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Wickius, der die Kriminalliteratur wie kein anderer kennt und jeden tatsächlichen Mordfall dank seines überragenden Krimiwissens löst, Wickius also: ist zurück! Und steckt mitten in seinem schwierigsten Fall! Es geht um Leben und Tod! Um Deutschland! Ein Verbrechen sondergleichen findet statt, jetzt, hier, während Sie das lesen! Die Zeit ist knapp und sie verrinnt unerbittlich! Wird Wickius Deutschland retten können? Lesen Sie halt selbst! Am Ende des Kapitels wird, wie es gute Wickius-Tradition ist, eine krimiliterarische Frage gestellt! Wer sie beantworten kann, wird in die Ruhmeshalle der Unsterblichen aufgenommen!

Achtung! Auf eindringlichen Wunsch einer Dame aus dem ebenso mondänen wie sittenverdorbenen Wiesbaden ist das nun folgende erste Kapitel stark sexuell unterfüttert! WIr bitten um entsprechende Vorsichtsmaßnahmen!
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Sie ist müde und sie wohnt im siebten Stock und es gibt keinen Aufzug und gäbe es einen, sie würde ihn doch nicht benutzen, sie hat nämlich Platzangst und das heißt nicht, dass du in Venedig auf dem Markusplatz stehst und langsam panisch wirst, weil dich die Tauben vollscheißen oder dich ein distinguierter grauer Herr namens Brunetti brünstig zutextet, aber wieso sie jetzt schon wieder bei dem Thema gelandet ist, das muss Wickius wissen, der kennt die Krimis, sie schleppt sich bloß hoch, sich und eine schwere Einkaufstasche, viertel vor sieben abends, denn dass Wickius gekocht hat ist so unwahrscheinlich wie dass er nicht vorm Rechner sitzt und siehe da, Szenenwechsel, Wickius sitzt vor dem Rechner, den Eintritt der platten Anna Beller registriert er ganz beiläufig, er flucht aufs leere weiße Papier vor sich, das virtuelle, aber Papier ist immer Papier, wenn es auf Buchstaben wartet und schon steht die Beller hinter ihm, der Stoff ihrer Bluse, hochsommerlich dünn, knittert und knistert in seinem Nacken, auch das noch, Platzangst, ihr Kopf neben dem seinen, sie betrachtet die leere Seite und endlich beendet die Beller diesen elend langen Satz mit der Frage: „Was soll denn DAS werden?“

„Wer diesmal?“ fragt Wickius leise zurück und die Beller antwortet, fast gehaucht: „Brunetti.“

Wickius hält den Atem an, wie immer, wenn er sich konzentriert, höchstens aber drei Minuten, sonst werden die Hirnschäden infolge Sauerstoffmangels irreparabel. Wäre er das Produkt einer krankhaft sexualisierten Autorenphantasie – man darf sich gar nicht fragen, ob es überhaupt eine andere gibt; wahrscheinlich nicht – er hätte sich ohne Verzögerung auf die Beller stürzen müssen, der triebhaften Natur ihren Lauf lassen. Aber er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut und schätzt ergo das Fleischliche und Blutige gering. Weiß ja auch, dass die scheinbare Erregung der Beller nur das Symptom einer seltenen Krankheit ist, einer so seltenen, dass man sie die Bellerkrankheit nennen müsste, an der sie seit ihrer Pubertät leidet und die sie ihm an jenem merkwürdigen Abend, als er sich entschlossen hatte, bei ihr einzuziehen, eröffnet hatte.

In der Schule stand Raymond Chandler auf dem Englisch-Lehrplan und nie zuvor hatte sie, die Beller, einen Krimi auch nur in die Hand genommen, jetzt aber musste sie „The long good buy“ lesen, tatsächlich, sie hielt es für die Schilderung ausgedehnten Shoppings, die Amis, man kennt sie ja, konsumorientiert und flach, es ging aber dann doch um etwas anderes, sie hat nie kapiert, um was eigentlich, aber seit sie sich durch das Buch gequält hatte, war ihr in unvermittelten und nicht zu unterdrückenden Tagträumen Philip Marlowe erschienen und hatte versucht, sie zu verführen. Merkwürdigerweise sah er nicht wie Humphrey Bogart aus, er hatte vielmehr eine verblüffende Ähnlichkeit mit Sallemann, dem Chemielehrer. Nun ja, die Pubertät. Aber sie war plötzlich krimisüchtig geworden, sie las, was sie kriegen konnte, sie verstand nie ganz, um was es eigentlich ging, vergaß die Inhalte sofort nach Lektüreende, aber die Detektive hatten sich in ihrem Kopf verselbständigt, tauchten plötzlich auf, machten ihr sexuelle Avancen, Mike Hammer, sogar Hercule Poirot, einmal – ein richtiger Albtraum – Miss Marple, die sich im Freibad neben die Beller legte, oben ohne, schauriger Anblick, nie mehr Urlaub auf Lesbos.

Wickius hatte damals stumm zugehört, nicht einmal genickt, er war wie erstarrt. Dann hatte die Beller zu heulen angefangen, beteuert, nein, sie sei nicht nymphoman, sie denke nur ständig an Sex und schuld sei die Kriminalliteratur, da brauche nur einer die Pistole aus dem Halfter zu ziehen, schon sei das obszön konnotiert, sagt man doch so unter Literaturwissenschaftlern. Und Polizistin sei sie geworden, na, warum wohl. Nur zwei Frauen im Lehrgang, die andere konnte keine Leichen riechen, Parfümtick, hat später im Rhein-Main-Gebiet Karriere gemacht, jetzt Verwaltungshengstin.

„Dann lies doch einfach keine Kriminalromane mehr!“ hatte ihr Wickius geraten, sie aber, die Beller: „Das pack ich nicht!“ und er, Wickius, nickend: „Ich auch nicht.“ So musste er damit leben, dass die Beller von Tagträumen überfallen wurde, in denen ihr die Helden der Detektivgeschichten und Polizeischwarten Avancen machten, sie auf dumme Gedanken brachten, deren Zielobjekt Wickius wurde, der die Wohnung seit dem Einzug vor drei Monaten nicht verlassen hatte, an seinem Computer saß, schrieb.

Während er sich dessen erinnert, hat die Beller mit Hilfe ihrer Brüste seinen Kopf nach vorne gedrückt, und dieser Kopf ist ganz heiß geworden, rötliche Pusteln haben sich in Wickerts Gesicht breitgemacht. Die verfluchte Pixelallergie, auch so eine seltene Krankheit, die Wickiuskrankheit. Näher als zwanzig Zentimeter vor dem flimmernden Bildschirm und die Haut reagiert mit Ausschlag, Brennen, Hitze. Vorsichtig entwickelt Wickius Gegendruck, der Kopf versinkt zwischen den Brüsten, das ist auch keine Lösung, das macht die Sache nur noch schlimmer, für die Beller jedenfalls.

Die fragt noch einmal: „Also, was soll das werden?“ und wortlos hantiert Wickius mit der Maus, klickt zweimal, antwortet: „Da, lies mal. Krimiblog-Karneval, ich muss was dazu schreiben, das ist Bloggerpflicht. Irgendso eine Nase gibt ein Thema vor und viele andere Nasen geben ihren Senf dazu ab.“

Anna Beller liest:

Manche mögen sie, andere verabscheuen sie: Krimis. Welche Beziehung hast Du zur Kriminalliteratur? Warum magst Du Krimis – oder warum nicht? Spannung oder Entspannung, literarisches Grauen oder Genuss – was bedeutet Kriminalliteratur für Dich?

„Und?“: die Beller: „Schreib doch: Ich lese Krimis, weil sie mir beruflich geholfen haben, Morde aufzuklären, denn jeder Mord in der Wirklichkeit ist nur die schlechte Kopie eines Mordes in unsern großn Romanen.“

Wickius seufzt. Er denkt nicht gerne an seine Zeit als Kriminalkommissar. Erfolge, natürlich, 100% Aufklärungsquote, aber genau deshalb hatten sie ihn geschasst. Außerdem stimmt das gar nicht, und er sagt:

„Ich lese Kriminalromane, weil die Hochliteratur irgendwann einmal die Richtung geändert und angefangen hat, mir haarscharf am Arsch vorbei zu gehen.“

Und die Beller – was ist mit dem Stoff im Nacken? Das ist kein Stoff mehr, das ist blanke Haut, das fühlt sich an wie ihr Nabel, dieser Knubbel, man hat ihr die Nabelschnur nicht richtig abgeschnitten – die Beller lacht:

„Das ist gut. Aber das glaube ich dir nicht. Du liest Krimis, weil du…jetzt drüber schreiben kannst. Tag für Tag. In deinem Blog mit dem fürchterlichen Namen. Wie war der noch mal?“

Wickius mechanisch: „Enzyklopädie des kriminalliterarischen Wissens unter besonderer Berücksichtigung der Tagesaktualität“, und die Beller wieder: „Genau. Dreh dich mal um.“

Er würde sich nicht umdrehen, er weiß ja, was ihn erwartet. Die Beller macht zudem überhaupt keine Anstalten, ihr Fleisch von seinem Fleisch zu lösen, wie soll man sich da umdrehen, mal würde ja eh nur knapp über Bauchnabelhöhe in Großporiges glotzen, während die Besitzerin dieser Kraterlandschaft in Venedig Platzangst bekäme oder was auch immer. Deshalb fragt Wickius, nachdem er zwanzig Sekunden die Luft angehalten hat, um sich zu konzentrieren, zu sammeln: „Und wie war dein Arbeitstag heute? Neuer Fall?“

Die Beller hält ebenfalls die Luft an, aber nur zwei Sekunden.
„Doppelmord“, berichtet sie dann, „zwei junge Kleinkriminelle abgestochen, Dreck unter den Fingernägeln. Kommt dir das bekannt vor?“

„Natürlich“, antwortet Wickius, „du musst die dritte Jungfrau suchen, dann hast du den Fall gelöst.“

Das mit der Jungfrau hätte er nicht sagen dürfen, obszön konnotiert, verdammt noch mal. Aber die Beller grunzt zufrieden, genau, dafür gewährt sie ihm Obdach, bezahlt die Miete für ihn, kocht für ihn, kauft für ihn ein, wäscht ihm die Socken, zieht sich für ihn aus, kurz: sie benutzt ihn. Ihn und sein immenses Krimiwissen. Sie ist eine berechnende Person, wenn sie nicht gerade an Sex denkt, sie denkt immer an Sex, das Berechnende hält sich also in Grenzen, aber in jener Nacht, als Wickius vor der Tür gestanden hatte, ein abgerissener, depressiver Mann ohne Dach über dem Kopf, da hatte sie gewusst: Den brauche ich.

„Die dritte Jungfrau? Ich hab nicht einmal Nummer eins und zwei. Erzähl mir mehr.“

Wickius atmet aus. Er spürt, wie sich das Fleisch der Frau von dem seinen löst, er hört, wie sie Kleidungsstücke vom Boden aufliest, es ist überstanden, es ist vorbei, bis zum nächsten Tagtraum, bis zum nächsten Ausbruch der Bellerschen Krankheit. Und er beginnt zu reden: „Also, das ist so…“

Und dann lärmt das Handy der Beller, gibt eine furchtbare Akkordfolge von sich, „Stairway to Heaven“, das Intro auf der akustischen Gitarre.

„Ja? Was? Wo? Beilschmidtallee 5? Wie? Ach Gott, ach Gott. Und der Name? Silvester Müller-Steinbeis?“

Wickius springt auf, die Beller ruft „Ja, komme sofort“ ins Telefon, blickt überrascht zu Wickius hin, der überrascht zur Beller hin schaut, die ihre Wiederbekleidung mit dem Anlegen eines Schals begonnen und nicht fortgesetzt hat, eines gesprenkelten Schals, der auch jahreszeitlich bedenklich ist, und jetzt abgenommen wird, Wickius lächelnd um den Hals geschlungen, wobei sich der Körper der Lächelnden dem Körper des Umschlungenen gefährlich nähert, ersterer nackt, letzterer nicht, Wickius weicht zurück, „Musst keine Angst haben“, beruhigt die Beller neckisch, das ist doch nur ein Schal, der seit zwei Monaten hier rum liegt und jetzt hab ich ihn irrtümlich angezogen, das ist doch keine Schlange oder so was“, aber nicht deshalb weicht Wickius zurück, sondern weil immer noch der Name Silvester Müller-Steinbeis in ihm nachklingt, mit gespenstischem Hall verfremdet, ein hohles Echo.

„Silvester Müller-Steinbeis sagtest du? Beilschmidtallee 5?“

Die Beller, sie hat sich inzwischen blitzschnell bekleidet, nickt. „Kennst du den?“

„Das kann man wohl sagen. Das ist ‚der allwissende Krimiblogger’, die unbestrittene Kapazität des Genres, Schrecken aller deutschen KriminalschriftstellerInnen…“

Die Beller geht aus dem Zimmer, dreht sich um, Wickius, bleich, steht noch immer da, sie schaut auf seine Hose, immerhin, das Fleisch reagiert auch ohne ausdrücklichen Befehl des Gehirns. Sie lächelt milde.

„Ich muss zum Tatort. Heute abend berichte ich dir mehr. Und du erzählst mir alles über diesen Allwissenden. Bis dann.“

Sieben Stockwerke, sie fliegt. Es gibt keinen Aufzug, sie braucht keinen, wenn es abwärts geht. Brunetti hat den Schwanz eingezogen, Brunetti macht sich an eine andere ran, Marlowe winkt am Horizont, nein, es ist der Chemielehrer, völlig ungefährlich. Für wenige Minuten denkt die Beller nicht an Sex. Sie hat ihn. Ein angenehmes Kribbeln im Nacken, besser als nichts.

Wickius lächelt. Er hat doch gleich gewusst, an was ihn das erinnert hat, das da eben. An eine klassische Kriminalgeschichte. Aber an welche?

14 Gedanken zu „Kapitel I“

  1. @Georg: Du bist hier außer Konkurrenz. Für dich lautet die Aufgabe: Finden Sie das Arno-Schmidt-Zitat (leicht abgewandelt).
    @Ludger: Klar, 6x Fleisch. Für jeden Wochentag ein Stück. Freitags bleibt fleischlos, nur MAGGI ist erlaubt.

    bye
    dpr

  2. Pistole aus dem Halfter? Hä? Maggi gildet nicht. Streng dich an, sonst entziehe ich dir die Lizenz zum Schmidtzitieren!

    bye
    dpr

  3. Tja, wo bleibt sie denn? Georgios hat sie schon halb gegeben, natürlich Conan Doyle, Das gesprenkelte Band, die Sache mit der Schlange…das Schmidtzitat hat er aber nicht gefunden, das gibt zu denken.

    bye
    dpr

  4. Darf ich dir nicht sagen. Sonst lynchen mich hier einige. Aber das Buch heißt „Die dritte Jungfrau“, die Autorin musst du selber rausfinden, lesen auch, lohnt sich, wird dir gefallen.

    bye
    dpr

  5. Außerdem bringt sie alles durcheinander! Es heißt nicht Breitscheidallee, sondern Beilschmidtallee, und dort wurde „der Allwissende“ ermordet, NICHT die Kleinkriminellen aus Vargas‘ Buch! Gut, dass Anobella bisher noch nicht auf den Gedanken gekommen ist, selber Krimis zu schreiben, das wäre ja ein einziges logisches und logistisches Chaos!

    bye
    dpr

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