Kapitel VII

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Was bisher noch nicht geschah: Claudia Roth wird nach Gerhard Schröder und Angela Merkel zur dritten Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt – Franz Müntefering erleidet beim Studium der neuesten Arbeitsmarktzahlen einen vorzeitigen Samenerguss – Jan Seghers nimmt als „Jan Ullrich“ an der diesjährigen Tour de Literatur teil und wird prompt beim Dopen mit intravenös verabreichten Fremdwörtern erwischt – Was bisher wirklich geschah, wird Herr Wickius im Folgenden noch einmal knapp zusammenfassen.

„Och, is der süüüüüß!“

Wickius, den dieser ohne Vorwarnung in die Nacht gekreischte Satz zum wiederholten Male aus tiefen Gedanken reißt, schickt stumme Flüche Richtung Wohnzimmer, wo es sich die Beller mit Salzgebäck und Likörchen vor dem Fernseher bequem gemacht hat. Er seufzt. Immer wenn in Klagenfurt Hochleistungsdichten ist, kann man die Beller vergessen, dann erfüllt sie ganz und gar die hehre Literatur, vulgo: drittklassige Autoren, die von zweiklassigen Kritikern vor viertklassigem Publikum getätschelt oder abgewatscht werden, alles für eine Handvoll Euros.

Und die Beller ist auf 180. Zudem stinksauer, weil sie wegen des aktuellen Falls das Dichteln nicht „live“ mitverfolgen kann, sich alles auf Video lagern muss, um es dann des Nachts mit offenem Mund (für Salzgebäck und Likör) und höchstsensibilisiert abzunudeln. Und wehe, man sagt was. Wehe, man erwähnt en passant, es sei doch schon merkwürdig, dass hier nur Menschen reden würden, die zu Normalzeiten keinen geraden Satz auf die Reihe bekommen. Wehe, man…

„Och, ist der süüüüß!“

Aha, wieder so ein lockiger Jüngling, dem es aus dem sinnlich geformten, aber undichten Maul herausdichtet. Wickius greift zu den Ohrenstöpseln und widmet sich wieder seinen tiefen Gedanken.

Die Agnes Meysel, welche sich für die Barbra Reinhardt ausgegeben hat, ist noch immer flüchtig. Die Barbra Reinhardt, aus ihrem Gefängnis befreit, hat ihren Job bei der Gerichtsmedizin gestern angetreten, steht noch leicht unter Schock, ist aber mindestens so apart wie die Meysel und zehnmal so nett wie die Beller aktuell. Von den sieben entführten SYNDIKATS-AutorInnen weiterhin keine Spur. Den Blogger Menke aus Hamburg, der doch immer gegen das SYNDIKAT hetzt, hat man festgenommen und in hochnotpeinlichem Verhör sogar zu einem Geständnis bewegt. Ja, er, der Menke, gestehe, alljährlich auf der Frankfurter Buchmesse Ausstellungsstücke, Krimis ausschließlich, „mitgehen zu lassen“, wie er es formuliert. Das sei aber krankheitsbedingt, er könne ein ärztliches Attest vorlegen, fortgeschrittene Bibliomanie, mit der Entführung habe er aber nichts zu schaffen, das sei einige Nummern zu groß für ihn, er könne notfalls auch hierfür ein ärzliches Attest besorgen.

Die Paprotta, bei der die Meysel ja als „die Bettina“ die Privatsekretärin gemimt hat, die Paprotta also ist auf und davon, nach Brasilien, Amazonasexpedition, kein Rückflugticket, abgetaucht auf Nimmerwiedersehen. Kein Verlust für die deutsche Kriminalliteratur, denkt Wickius. Diese unsympathische Krimischaffende wird sofort durch fünf Regionalkrimiautorinnen abgedeckt, sozusagen, überhaupt kein Problem.

Die Chaplet, auch auf der ominösen Liste, die man bei dem ermordeten Krimiblogger „Der Unbegreifbarste“ gefunden hat, die Chaplet ist ebenfalls verschwunden. Angeblich in ihr französisches Ferienhäuschen, dort aber nie angekommen, in Paris hat sie sich einen Flugschein in die Antarktis gekauft, um sich dort einer langen Expedition mit ungewissem Ausgang anzuschließen. Sie wird am Südpol den Zwergpinguinen aus ihrem neuen Werk vorlesen, die klatschen ja wegen allem mit ihren Flügeln.

Der Eckerthorst hat sich, wen wunderts, auch verdünnisiert, „Recherchen für den neuen Roman“, der „Im tiefsten Afrika“ heißen wird, also nach Afrika, sollte man vermuten, irgendwo hat sich aber die Spur des Düsseldorfer Dichters verloren. Und so weiter. Sie verschwinden nacheinander alle von der Bildfläche.

Jetzt hat sie wieder geschrien. Man hat es wegen der Watte in den Ohren nur sehr gedämpft vernommen, auch nicht, was sie da geschrien hat, es muss aber wohl wieder dieses unerträgliche

„Och, ist der süüüüüß!“

gewesen sein. Gedankenvoll betrachtet Wickius die DNA-Analyse, die ihm sein Polizistenfreund unter Umgehung des Dienstweges hat zukommen lassen. Noch ist die Botschaft, so klar sie auch scheint, kryptisch, fügt sich nicht in ein logisches Schema. Wickius legt das Papier beiseite.

„Och, ist das Scheißääää!“

Die Beller, ganz nah, sie stapft in das Wickiussche Arbeitszimmer, da hilft auch keine Watte in den Ohren.

„Gerade jetzt, wo dieser süße Typ aus Berlin liest, der mit dem Hammervorstellungsvideo!“

Die Beller hält ihr Handy in der Rechten, aha, sie hat einen Anruf bekommen, folgert Wickius messerscharf, von der Arbeit, es haben sich neue Fakten ergeben.

„Ist was?“ fragt er so sanft und neutral wie möglich, aber nicht sanft und neutral wie möglich genug, denn die Beller bafft ihn an: „DU bist doch genauso einer! Ein hirnloser Krimiidiot, ein aliterarischer Banause, ein dumpfer Dickschädel, ein stets vollbeleidigter Dilettant!“

Wickius nickt. Wo die Beller Recht hat, hat sie Recht. Er fragt noch einmal, noch sanfter, noch neutraler:

„Ist was?“ – und die Beller bafft abermals: „Ja, ja, ja, ISWAS! Claudia Roth ist verschwunden! Steht doch auch auf der Liste!“

Wickius ist überrascht. Claudia Roth? Das ist doch jene Politikerin, die im Zusammenhang mit der Nachwuchsautorin A. aus Wiesbaden auf der Liste….genau: „Anobella = Claudia Roth“ steht es dort schwarz auf weiß.

„Was heißt ‚verschwunden’?“ fragt er sanftest, neutralst. Die Beller hat sich ein wenig abgeregt, für einen bösen Blick langt es aber immer noch.

„Na, verschwunden heißt verschwunden! Die Kollegen in Berlin, wo die Roth wohnt, haben sich mit den Kollegen in Wiesbaden, wo diese andere Tussi wohnt, kurzgeschlossen, die Wiesbadener – ein Typ namens Leichhardt, muss man sich mal vorstellen! – sind zur Wohnung der A. gefahren, haben diese aber dort nicht angetroffen, die ist wohl auch ausgeflogen! Eine Nachbarin, reizende ältere Dame namens Menke – heißt so nicht auch dieser Hamburger Blogger? Na, kann Zufall sein – die jedenfalls hat zu Protokoll gegeben, die A. habe am Morgen in geradezu panischer Manier das Weite gesucht. Draußen vor der Tür ein dicker Mercedes, eine Frau mit roten Haaren hinterm Steuer – nein, nicht die Chaplet, eher die Roth, die A. ist eingestiegen, der Wagen reifenquietschend ab, nein, die Nummer hat sich die Omi nicht gemerkt, sie hatte ihre Brille gerade nicht auf.“

Die Analyse, denkt Wickius. Die Analyse des Speichels von der Rückseite der Briefmarke auf dem Brief, den ihm die A. aus W. vor zwei Wochen geschickt hat, eingetütet ihre neuesten Ergüsse, ein gusseiserner „Kurzkrimi“, mit 4 Seiten 3 zu lang, ein „Romanexposé“, das mit den Worten „Äh, das mit dem Plot muss ich noch überlegen“ endet. Die Anmerkung des Labors, die Speichelprobe entspreche einer anderen, die man im LKA Hessen seit mehreren Jahren gespeichert habe, kein Zweifel möglich: Bei dieser A. aus W. handele es sich garantiert um Hermine Roth, die Zwillingsschwester von Claudia, die Kinder waren gleich nach der Geburt durch ein geheimnisvolles Schicksal von einander getrennt worden und bei Pflegefamilien aufgewachsen, die Hermine sei vor Jahren straffällig geworden, als sie einem Mann ein Buch an den Kopf geworfen und diesen erheblich geschädigt habe, nein, der Titel des Buches sei nicht erfasst worden, wohl aber der Name des Mannes: Rigobert Stahl, Lebemann und Gelegenheitsdichter. Der habe die in der ersten Wut erstattete Anzeige aber später zurückgenommen, die Polizei ihrerseits eine DNA-Probe von der Hermine Roth aber ge-nommen, wenn man gerade mal die Gelegenheit hat, nicht wahr? Der Stahl habe übrigens eine falsche Adresse angegeben und sei seit dem Vorfall selbst – verschwunden.

Das wird ja immer komplizierter, denkt Wickius. Das wären exakt 439 Seiten in einem Krimi, das würde doch kein Schwein lesen. Aber das Leben ist eben komplizierter als jeder Kriminalroman.

Die Beller wirft fluchend ihr Handy in die Wickiussche Wohnlandschaft und droht: „Wehe, du stellst jetzt wieder eine deiner dämlichen Fragen! Giorgio ist eh nicht da, um sie zu beantworten und ich, ich, ich, ich hab verdammt noch mal keinen Bock auf diese Spielereien!“

Wickius schließt die Augen. Das muss du jetzt aussitzen denkt er. Und in diesem Moment fällt ihm tatsächlich eine Frage ein, die er aber wohlweislich für sich behält: Welche Krimidichterin hat beim Klagenfurter Qualitätslesen schon mal einen Preis gewonnen? Na, so schwer ist das ja nun nicht…

7 Gedanken zu „Kapitel VII“

  1. lieber hochsensibler dichter,

    ich hab nie „och, ist der süß!“ gerufen.

    *kringelt sich

    wieder eine frage, die ich beantworten kann!
    p i e k e b i e r m a n n !

    ich habe ein schönes buch gefunden, daraus könnte ich eine schöne szene machen. nur gibts bei mir nie was zu raten … *grummelt … wir sind jetzt quasi ALLEIN, dpr …

    **träumt

  2. Pardon, du hast wieder den Spamfilter durcheinander gebracht. Wir sind allein? Ehrlich? Und von was träumst du? Frage natürlich korrekt beantwortet, schon das zweite Fleißkärtchen!

    bye
    dpr

  3. der neue tgv-irrsinigschnellzug von frankfurt nach paris fährt über saarbrücken …

    *träumt von paris
    **e r t r ä g t die gleichsetzung mit petra roth
    ***würde gern zurückärgern, weiß aber nicht wie

  4. Petra Roth, hihi, lacht da Petra Freud. Paris? OHNE MICH! Früher bin ich immer schnell nach Paris gefahren, wenn ich Liebeskummer hatte, also Stücker 50x. Rumlaufen, irgendwo lecker essen, mit dem Nachtzug wieder heim. Nee, nee.
    Und streng dich mal an mit dem Zurückärgern! Das heißt: Warte mal zehn Minuten, dann stelle ich eine vorgezogene Hausaufgabe der Crime School, die alle LeserInnen gefälligst zu beantworten haben, sonst trete ich, der Lokführer dieses Krimiblogs, die nächsten drei Wochen in den Streik!

    bye
    dpr

  5. Ja, aber doch nur, weil bei mir autobiografisch dieses „Paris, Stadt der Liebe“ immer mit „Paris, Stadt der enttäuschten Liebe“ verbunden ist! Was sind denn das für Voraussetzungen! Damit treibe ich dich ja Georg in die Arme! Außerdem hast du dich noch nicht öffentlich von deinem Verlobten losgesagt. Vorher läuft hier gar-nichts!!!

    bye
    dpr

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