Vergessen wir den „Tannöd“-Hype. In einem Land, dessen Bevölkerung zu Millionen vor den Fernsehern sitzt und chemisch abgefüllten Pedaleuren zujubelt, kann ein Buch nur mit Hilfe der üblichen Hochleistungs-Medienzuckungen zu Hunderttausenden verkauft werden. Vergessen wir das Reizwort „authentischer Fall“. Das interessiert mich, wenn ich einen Roman zur Hand nehme, nicht im mindesten.
Vergessen wir vollständig die Plagiats-Farce, die eigentlich nichts weiter ist als Teil des Hypes. Vergessen wir die enttäuschten Zurufe düpierter KäuferInnen, die wegen dieses Hypes zugriffen und danach den „komischen Schreibstil“ ebenso geißelten wie die Preisgestaltung des Nautilus Verlags. Ihnen ist in diesem Leben nicht mehr zu helfen und in einem anderen werde ich hoffentlich anderswo sein als sie.
Vergessen wir die Sprache. Wie schon „Tannöd“ kommt auch „Kalteis“ als ins Hochdeutsche massakrierter Dialekt daher, syntaktisch zwischen verdreht-verzwirbelt und naiv-niedlich. Das ist Andrea Maria Schenkel, das darf sie, dafür kann man sie schelten oder bejubeln oder man kann es hinnehmen als den legitimen Versuch einer Autorin, zu einem eigenen Stil zu finden. Sie inszeniert, sie hat, auch wenn wieder viele Stimmen aus Protokollen und Zeugenbefragungen reden, nur eine Perspektive, die ihre nämlich.
Vergessen wir die historische Zeit. Kalteis, das „Monster“, mordet, während der Staat das viel größere Morden vorbereitet. Der Analogschluss, nach dem uns Schenkel hier im Kleinen vorführt, was im Großen bevorsteht, ist natürlich zulässig. Aber kein Verdienst der Autorin, sondern ein automatisch gereichtes der schrecklichen Epoche.
Vergessen wir den Mörder Kalteis. Um ihn geht es hier nicht. Weder um die Umstände seiner Offenbarungen – im Dritten Reich oft genug unter der Folter gemacht – noch um die Hintergründe seiner schrecklichen Taten. Andrea Maria Schenkel lässt Kalteis bekennen, lässt ihn leugnen, lässt ihn abschweifen – er ist aber nur Mittel zum Zweck, „das Böse“ eben, nichts von dem was er sagt überrascht.
Vergessen wir die Euphorie, bei „Kalteis“ handele es sich wie schon bei „Tannöd“ um etwas „Neues“. Was auch bei einem Zweitwerk merkwürdig klänge, das in seiner Machart an den Vorgänger gemahnt, also schon deshalb nicht „neu“ sein kann. „Tannöd“, nur zur Erinnerung, weist über die Zwischenstation „Kritischer Heimatroman“ geradewegs zurück ins 19. Jahrhundert, was man wüsste, wüsste man etwas über Krimis im 19. Jahrhundert. Aber für diese Euphorie kann Frau Schenkel ja auch nichts. Sie hat gezeigt, dass inmitten der inzwischen unerträglichen Krimi-Stanzereien auch ein Roman Erfolg haben kann, der gegen den Trend läuft, der nicht die wenigstens 200 Seiten Standardthrill abspult, keine Detektive beim Ermitteln zeigt oder, noch schlimmer, beim Inspizieren ihrer Kühlschrankinhalte zum Zwecke des „realistischen Schreibens“.
So, haben wir jetzt alles Wichtige vergessen? Dann kommen wir endlich zu „Kalteis“, das Buch mit dem etwas zu sprechenden Namen. Aber, wie schon gesagt, um Kalteis geht es nicht. Es geht um Kathie, ein junges Mädchen vom Land, das nach München kommt, weil man es daheim nicht mehr haben will. Kathie will Arbeit finden, Kathie will eine Dame in schönen Kleidern werden. Aber Kathie wird zunächst einmal eine Gelegenheitsprostituierte, und irgendwann schneiden sich die Lebenswege von ihr und Kalteis, und was da rauskommt, das ahnen wir von Anfang an, das beschreibt uns die Autorin an den Vorgängeropfern.
Und das ist schön und überlegt gemacht. Während Kathie ihrem Schicksal entgegenlebt, während wir schon wissen, dass wir da eine Verlorene auf ihrem letzten Stück Weg begleiten, seziert Andrea Maria Schenkel das grauenvolle Ende an Stellvertreterinnen-Objekten, und wir sehen die lebendige Kathie immer auch schon als tote Kathie.
Das hat sie in „Tannöd“ nicht gemacht (wir vergessen jetzt, dass wir „Tannöd“ eigentlich vergessen wollten). Dort hat sie eine ländliches Soziogramm inszeniert (dieses „inszeniert“ ist entscheidend), hier schickt sie ein armes Hascherl durch den Rest seines erbärmlichen irdischen Daseins. Punkt, fertig.
Ist das jetzt zu wenig oder vielleicht schon zu viel? Ich weiß es nicht. „Kalteis“ hat mich nicht gepackt, es hat mich trotz der gelungenen Dramaturgie – ein wenig kalt gelassen, was aber nicht am Text selber liegt, sondern natürlich an mir, der ich eben das Vergessen predige, aber nicht wirklich vergessen kann. – Oder es liegt gerade an der gelungenen Dramaturgie, weil man sie sofort als gelungene Dramaturgie erkennen kann. Wie auch immer: „Kalteis“ ist ein nettes Buch, und hätte Andrea Maria Schenkel damit debütiert, wäre sie ähnlich gelobt worden wie für „Tannöd“. Aber weil dem nicht so ist, lobt man es als das Buch, das „Tannöd“ überwinden sollte, aber noch nicht überwunden hat.
Das ist nun einmal der Fluch von Zweitlingen, die zwar eine Weiterentwicklung zeigen, aber noch zu sehr an der großen Blaupause hängen. Doch selbst das kann man der Autorin nicht anlasten. Sie ist dabei, sich freizuschreiben, hoffentlich auch formal, denn noch einmal möchte man ein Buch von ihr nicht mit „Tannöd“ vergleichen müssen oder darauf bestehen, es zu vergessen. Enttäuscht sein von „Kalteis“ kann nur, wer „Tannöd“ reloaded will oder überhaupt kein „Tannöd“. Alle anderen haben kein schlechtes Buch gelesen und warten auf ein anderes.
Andrea Maria Schenkel: Kalteis.
Edition Nautilus 2007. 155 Seiten. 12,90 €
Plus: Das Abstreifen jener unsäglichen Serienkiller-Romantik, von der viele Krimischaffende leider befallen sind. Das kann man nicht hoch genug einschätzen.
Minus (1): Auch Ellroy hat nach Aktenlage gearbeitet, jedoch mit größerer *schriftstellerischer* Eleganz – das war wirklich innovativ.
Minus (2) Bei einem ähnlich gelagerten Zweitling fällt es halt auf: ein wenig erinnert mich die Autorin an ein rotwangiges Schulkind, das, Zunge zwischen den Lippen, unbedingt eine „1“ schreiben möchte.
Aber was solls, das Plus überwiegt.