Edgar, 1

Edgar Poe weilt am 19. Januar 2009 200 Jahre unter uns. Anlass für eine Serie von Aufsätzen, die dieses labile Wunderwerk der Literatur in loser Folge aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten sollen. Mit Anknüpfungen an die Kriminalliteratur, das Leben an sich, die Geschichte und die Gegenwart, das Politische und das Private, das Erhabene und das Niedere.

1. Der Weg zu Poe

Zu Edgar Poe gelangt der gemeine Leser auf drei Wegen. Der erste führt über die phantastischen Erzählungen und „Arabesken“, der zweite über die „Kriminalerzählungen“, der dritte, seltenere über den biografischen Werdegang des Autors. Es gibt wohl kaum jemanden, der Poe als den Schöpfer von „Heureka“ oder den ausufernden, nicht selten wild um sich schlagenden Rezensenten kennenlernt. Nein, Poe begegnen wir entweder als dem „Vater“ des phantastischen (Horror-)Genres oder der Kriminalliteratur, wenn wir nicht gleich abwinken und die Schöpfungen eines offensichtlich völlig undiplomatisch agierenden, gelegentlich furchtbar schleimenden, noch öfter der Alkoholsucht ergebenen und in der Gosse verreckten Mannes als Reflexionen dieser scheinbar verkrachten Existenz betrachten.

Ich habe Poe über seine phantastischen Erzählungen kennengelernt, also nicht kennengelernt. Dann hatte ich großes Glück. Einige Jahre beschäftigte ich mich intensiv mit dem deutschen Autor Arno Schmidt, der nicht nur Poe übersetzt hat, sondern in seinem Opus Magnum „Zettel’s Traum“ Poes einzigen Roman – „Gordon Pym“ (der Titel ist abgekürzt und eigentlich viel länger) – von drei Personen psychoanalytisch auffächern lässt. Ich kam also nicht umhin, mich noch einmal Poe zu nähern, diesmal, indem ich ALLES von ihm las, den „Pym“ als erstes.

Hier gleich eine Warnung: „Pym“ ist ein Kriminalroman, der keiner ist, so oder so aber enttäuschend endet. Mit einem Geheimnis nämlich. Nichts wird aufgelöst, der Held verschwindet in dem Moment aus unserem Blickfeld, da ihm eine übergroße Gestalt in von schneeartiger Masse (die auch Puder sein könnte) durchwirbelter arktischer Landschaft entgegenkommt. Obwohl ich mich damals nicht sonderlich für Kriminalliteratur interessierte, ahnte ich doch, hier einen „Krimi“ zu lesen, der in umgekehrter Richtung funktioniert, indem er alle Konventionen (die natürlich erst viel später gezimmert wurden) außer Kraft setzt. Es beginnt „realistisch“ und endet „phantastisch“, das Nüchterne beginnt zu torkeln und kippt ins Mysteriöse, welches wieder die Erwartungshaltung, es möge doch nun alles aufgeklärt werden, provoziert.

Mir wurde damals auch klar, dass der Weg zu Poe nur über sein Gesamtwerk beginnen kann und dieses Werk ohne die Biografie des Autors kryptisch bleiben muss. Und vice versa. Wer das Leben Poes begreifen will, muss sein Werk begreifen.

Man braucht kein gelernter Literaturanalyst zu sein, um die Natur dieser phantastischen respektive von der ratio gesteuerten Erzählungen zu erkennen. Diese operieren unter dem Axiom der Strukturiertheit (was wir auch „Sinn“ nennen), jene verlieren sich in der Strukturlosigkeit, die folgerichtig Sinnlosigkeit impliziert. Darin liegt auch der Unterschied zwischen Herrschen und Beherrschtwerden.

Einen Königsweg gibt es hier nicht, wohl aber bedrohliche Überschneidungen der Systeme. In seiner Erzählung „The man of the crowd“ folgt der Protagonist einem willkürlich aus der Menschenmenge Londons ausgewählten alten Mann. Er beschreibt ihn detailliert, versucht ihn zu fassen – um am Ende zu konstatieren, es handele sich bei dieser Person um eine Personifizierung des Verbrechens, seinen „Geist“ gar. Er ist „the man of the crowd“, ein Teilchen der großen verwirrenden Maschine.

In keinem anderen Text hat uns Poe so umstandslos offenbart, wie dicht das Erkennenwollen der Dupin-Erzählungen und der Horror der phantastischen Geschichten beieinander liegen können, ja, eins steckt, schaut man nur genauer hin, im anderen. Der als Analytiker gestartete Flaneur endet als traumatisiertes Opfer seiner Sinnarbeit im Malstrom der mächtigen Sinnlosigkeit.. Der „Geist des Verbrechens“ lauert im Idealzustand des „Alleinseins“ als kleinste und daher am ehesten sinnstiftende Einheit und seines Gefesseltseins an „die Menge“, in der aller Sinn verloren gehen muss. Dieses Stück Prosa enthält die in meiner Überzeugung einzig überzeugende Definition von Kriminalliteratur: Wer die Welt vom Verbrechen befreien will, stößt auf die Welt als Verbrechen.

Was Poe hier erzählt, wird nicht nur essentiell für das Verständnis seiner Biografie und seines Werkes. Es umreißt generell die Situation des Schriftstellers und, daraus gefolgert, das Wesen von Literatur. Sobald ein Schriftsteller zu schreiben beginnt, schafft er eine Struktur – und gerät sofort in den Sog der Strukturlosigkeit, den er selbst mit seinem Schreiben heraufbeschworen hat. Es ist, als strebe man mit jedem Satz zum Ziel und zum Ausgangspunkt. Oder um es in der Sprache der Kriminalliteratur zu fixieren: Je näher ich der Lösung eines Falles komme, desto brutaler werde ich zum rätsel- und mysteriengetränkten Anfangspunkt, auf das Verbrechen selbst und die Notwendigkeit seiner Aufklärung zurückgeworfen.

Jeder Schriftsteller (also alle minus die bloßen Skribenten) steckt hoffnungslos im Faust-Dilemma: Für das Erkennen der Strukturen und ihrer als Wissen fassbaren Sinnhaftigkeit verschreibt er sich dem Teufel, doch alles was er tut, um zu erkennen, stürzt ihn in ein Inferno, dessen einzige ihm von der Natur gewiesene Aufgabe darin besteht, jeden Sinn zu verbrennen.

Einige wenige Menschen nur gehören zu dieser Gruppe von Autoren, und man erwarte bitte nicht, sie seien im üblichen Sinn „normal“. Sie sind „genial“, was nur ein anderes Wort für „verrückt“ ist und sogleich alle kleingeistigen Moralisten auf den Plan ruft, eine Spezies, die ich – der gebotenen Kürze wegen – als die Arschlochexistenzen bezeichnen möchte, denen der zuverlässig begegnet, den die Wirklichkeit und ihr Widerschein in der Literatur umtreibt (ein Zustand, der selbst eine Umschreibung von „verrückt“ sein dürfte, da es nicht um Nachahmung oder Neuschöpfung geht – Dinge also, an denen man die minderen Autoren zweifelsfrei erkennen kann, sondern um die Abbildung einer Wirklichkeit, die keine Gestalt annehmen kann). Poes entscheidender Plagegeist heißt Rufus Griswold, von Poe selbst zum Nachlassverwalter bestimmt (was nun wirklich eine verrückte Entscheidung war) und sehr damit beschäftigt, das Bild des Dichters als gescheiterte und verabscheuungswürdige Existenz zu kultivieren (Griswold war es auch, der Edgar Poe zu Edgar ALLAN Poe machte, indem er den Familiennamen des ungeliebten Pflegevaters einfügte. Poe selbst hatte sich mit einem wohl eher der Sprachrhythmik geschuldeten A. begnügt).

Als angenehm im Sinne von nach den Anforderungen der Gesellschaft berechenbar können solche Personen nicht kategorisiert werden. Goethe soll im täglichen Umgang kein sehr angenehmer Mensch gewesen sein, Bert Brecht, Arno Schmidt… nun ja. Auch Poe war nichts weniger als bürgerlich-ethisch kontinuierlich. Jetzt aber geschieht etwas Wunderbares. Poe, der Solitär, der sich in die Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts nicht einfinden kann, steht doch stellvertretend, wenn auch in extremer Vergrößerung, für genau diese Gesellschaft. Sie nämlich ist ähnlich hin und her gerissen von der Allmachtsvorstellung einer mächtigen, technoiden ratio und dem Ohnmachtsgefühl, mit jeder Beherrschung selbst von Dingen beherrscht zu werden, die sie nicht wirklich versteht, die ein Eigenleben führen, dessen Ziel es ist, den menschlichen Verstand als Souverän zu entthronen. Diese Erkenntnis steckt ja auch hinter „The man of the crowd“, und wenn diese Kriminalliteratur definiert, dann können wir füglich annehmen, zu keiner anderen Zeit als in eben diesem 19. Jahrhundert habe Kriminalliteratur entstehen können.

Nun sollte auch uns Heutigen dieser Zustand nicht gänzlich unbekannt sein, denn was diese Konstellation betrifft, leben wir immer noch im 19. Jahrhundert und sind dem bösen Erwachen eben nur ein wenig näher als unsere Vorfahren. Edgar Poe ist uns also nicht nur nah; er steckt in uns.

20 Gedanken zu „Edgar, 1“

  1. Es gibt übrigens auch Leute, die über „The Raven“ auf ihn gekommen sind. Aber das nur by the way.

    „Der als Analytiker gestartete Flaneur endet als traumatisiertes Opfer seiner Sinnarbeit im Malstrom der mächtigen Sinnlosigkeit.“ Gut gesagt.

  2. Bieg du’s dir nur gerade so, wie’s dir passt!

    Poe soll übrigens aufgrund seines Charmes einen sehr großen Erfolg bei Frauen gehabt haben. Von wegen düster und horrormäßig.

    Und vergiss mir nicht den satirischen und den wissenschaftskritischen Poe. Den kennen wohl die allerwenigsten. Ach, wirst du schon nicht.

    Welche Biografie empfiehltest du denn? Diese dicke da, die Arno Schmidt mit keinem Wort erwähnt, von Wieheißternochgleich? (Alzheimer, Alzheimer) Oder gibt es eine sehr gute auf Englisch?

  3. Ja, ein Womanizer war er schon. Ich empfehle Frank T. Zumbachs Biografie (erstmals 1986 erschienen), als Taschenbuch für nen Zehner zu haben. Sehr materialreich (über 700 Seiten), von den Interpretationen her manchmal etwas schwächelnd, aber dennoch eine solide Investition. Sehr gut sein soll (ich kenne sie nicht) Kurt Mösers Bio (nur noch antiquarisch zu haben?) von 1980. An Monographien, die Detektivsachen betreffend: John Evangelist Walch, Poet the Detective: The Curious Circumstances behind The Mystery of Marie Roget. Äh, Moment… momentan wohl auch nur antiquarisch zu bekommen. – Die Hoaxes auch noch? Also Heureka bestimmt…

    bye
    dpr

  4. Genau, den meinte ich: Zumbach.

    Von einem Evangelisten soll ich was lesen? Poet the Detective? Netter Verschreiber.

    Natürlich die Hoaxes. Finde ich outstanding, interessanter als diese abgelutschten Erster-Detektiv-Kram. Frühe Wissenschaftssatiren. Haben so viel Aufsehen erregt wie Orson Welles „War of the Worlds“. Guckstumal.

  5. Und wenn ich jetzt mit meinen Schülern eine gute Kriminalgeschichte lesen wollte, ca. eineinhalb Stunden, nächste Woche zum Beispiel, vor den Winterferien, welche wäre da zu empfehlen? Nicht die Rue Morgue … und nichts Phantastisches. Letztens las ich mit ihnen den atemberaubenden Lovecraft, das war fast zu viel. Aber immerhin bestellten gleich zwei danach das Buch.

  6. Da fällt mir spontan good old Temme ein. Guck mal auf der alte-krimis-Seite. Und bei „frühes 20. Jahrhundert“ unter Balduin Groller. Nette Sächelchen.

    bye
    dpr

  7. na bitte. das klappt doch wunderbar mit dem lesernutzen hier. vielen dank – wiederum! – für die tipps. ich meinte jedoch IN DIESEM FALL tatsächlich edgar poe selbst. ich würde gern eine kriminalgeschichte von ihm lesen, die NICHT in richtung phantastik geht (weil wir das gerade bei lovecraft hatten). aber nicht die rue morgue.

    🙂

  8. Ich muss Georg – leider – zustimmen. Seine Kriminalgeschichtn sind „ohne Phantastik“, aber kaum in anderthalb Stunden vorzulesen und wohl auch kaum nach dem Geschmack deiner Schülerschaft. Versuchs vielleicht mal mit „Das verräterische Herz“.

    bye
    dpr

  9. die kommentare kommen irgendwie seltsam zeitversetzt an. eure beiden waren eben noch NICHT da, als ich schrieb.

    das verräterische herz also.

    *steigt auf die leiter

  10. Aber „Das verräterische Herz“ ist keine Kriminalgeschichte. Nicht mal ein Thriller. Oder ein Cozy. Oder doch? Toter – Mörder – Investigation – Befragung – Kriminale: alles drin. Dann vielleicht doch.

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