Ein Sonntagsgedanke

Sprache ist ein wogendes Meer. Sie nimmt, sie gibt. Sie kann nicht anders, denn sie lebt. Würde man von ihr verlangen, die im Laufe der Jahrtausende angesammelten Beutestücke aus ihrem Fundus zu entfernen und durch eigengeschaffene Wörter zu ersetzen, niemand verstünde mehr, was gesagt wird. Stellen Sie sich das Deutsche ohne das Lateinische, das Griechische, das Französische, das Englische vor – und sie reden in einer Fremdsprache über eine Fremdsprache.

Aber selbst urdeutsche Wörter bleiben nicht, was sie sind und waren. Sie verändern sich auf ihrer semantischen Ebene. Das Wort „Bankert“ zum Beispiel. Das ist nun keine Hochsprache, aber jeder weiß, was damit gemeint ist: ein ungezogenes, nervendes Kind. Heutzutage jedoch käme so manch einer leicht auf den Gedanken, den Bankert Bänker-t auszusprechen und etwas ganz anderes darunter zu verstehen.

Oder „Schirm“. „Einen Schirm aufspannen“. Urigstes Deutsch. Man spannt einen Schirm auf, um sich vor Regen zu schützen. Der Regen ist hier also der Bösewicht, sonst bräuchte man sich ja nicht vor ihm zu schützen. Zur Zeit hat „einen Schirm aufspannen“ eine gänzlich andere Bedeutung. Man spannt den Schirm auf, um den Bösewicht vor dem Fluch seiner schlechten Taten zu schützen.

Daneben gibt es Wörter – auch sie von krachendstem Deutschtum – deren Bedeutungsspektrum seit jeher von den Annahmen der Unschärfetheorie bestimmt wird. „Tugend“ etwa. Wir wissen alle, was damit gemeint ist. Aber ist „Tugend“, genauer besehen, nicht aus dem bekannten „Wörterbuch der Unmenschen“? Assoziieren wir, ganz tief in uns drin, damit nicht gleich seinen Antipoden, den „Terror“? Der Tugendhafte vermag seine Tugend nur als Terror durchzusetzen. Er ist ein Tugendterrorist, das zweite Wort hängt unsichtbar und untrennbar am ersten. Wir stellen uns darunter einen Menschen vor, der Handgranaten werfend durch die Landschaft rennt und dabei „Weg mit den Handgranaten! Friede!“ schreit. Und zum Schreien hat er allen Grund, denn er sitzt in einer dialektischen Falle.

Eines aber tröstet uns. Tugendterroristen sind stets Selbstmordattentäter. Hier ist die Sprache wunderbar eindeutig.

5 Gedanken zu „Ein Sonntagsgedanke“

  1. Tugendterroristen halten nie die eigenen Standards ein – das macht den Umgang mit ihnen so ärgerlich und zu einem solchen Zeitfresser. Sie sind wie ein Blatt im Wind. Emotional instabil, dissoziativ und suizidal – Selbstmordattentäter, eben.

    Von mir aus. Shit happens. Solange sie niemanden mit in den Tod reißen.

    🙂

  2. Ja, ich bin auch immer wieder überrascht, was so an Sonntagen alles über mich kommt.

    bye
    dpr
    *muss sich sein kritisches Gebiss nicht mit Tugendhaftchreme an den Gaumen kleben

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