Kurzkrimis sind keine kurzen Krimis. Die besseren Exempel bedienen sich einer eigenen, aus der Not der Beschränkung geborenen Ästhetik, um den kleinsten gemeinsamen Nenner zu garantieren: Spannung. Aber eben nicht jene epische Spannung des über Hunderte von Seiten gespannten Bogens.
Der soeben bei Diogenes erschienene Band „Ladies of Crime“ macht uns mit etlichen Großmeisterinnen dieser besonderen Form von Spannung bekannt. Elf namhafte Damen sind mit je einem Paradestück ihrer Kunst vertreten – nein, es sind eigentlich nur zehn. Denn wohl ist Ingrid Noll Kriminalschriftstellerin, ihre Geschichte „Herr Krebs ist Fisch“ jedoch nichts sonst als eine mäßig humorige Ehe-/Seitensprungstory, in der sich allenfalls als verbrechensrelevant erweist, dass die Hausfrau mit Vorliebe unifarbene Mahlzeiten (Rotkraut mit roten Bohnen etc.) auf den Tisch bringt. Vergessen wir die ulkige Nummer.
Gleich die erste Geschichte macht uns mit einem Hauptmotiv weiblicher Mordlust bekannt: Rache. In Doris Dörries „Mit Messer und Gabel“ rächt sich die Heldin am Mann, weil der nicht zivilisiert zu essen versteht. Hm. Man ahnt sofort, worauf die Nummer hinausläuft und sieht am Ende seine Erwartungen bestätigt. – Dies aber ist das Todesurteil für den Kurzkrimi. Da er Spannung nicht als ein gefährliches, immer enger um Opfer und Leser sich zusammenziehendes Netz knüpfen kann, braucht er diese Spannung in ihrer heimtückischsten Form – als „suspense“. Suspense ist nicht einfach ein anderes Wort für Spannung. Es schließt das Spiel mit den Erwartungen des Lesers ein und düpiert diese mit einem „twist“, einer überraschenden Umkehrung des antizipierten Handlungsverlaufs. Fast alle Geschichten des Bandes machen davon Gebrauch. Ruth Rendalls „Der Pfeifer“ – auch hier geht es um Rache – dreht das scheinbar fixe Täter – Opfer – Schema einfach um. Während also der Leser erwartet, dass der Böse etwas Böses tut, wird dieser Böse selbst zum Objekt unlauterer Pläne.
Dass man dieses Spiel mit einfachem Suspense bis in raffinierteste Höhen treiben kann, beweist Joan Aiken mit dem hinterhältigsten Vertreter dieser Gattung. In „Das Lateinfossil“ schauen wir einer Schulklasse beim Quälen ihres Lateinlehrers zu. Ein toter Hund bringt die Bösewichte auf eine finale, vernichtende Idee… doch ein dummer Zufall sorgt für den Twist und bewegt die Geschichte in eine gänzlich andere Richtung. Großartig nicht nur die Beiläufigkeit, mit der hier Rache genommen wird, auch die Art, wie Aiken plötzlich die tragische Dimension des verruchten Spiels öffnet und in die „Kriminalhandlung“ (die eigentlich keine ist) einbezieht, zeugt von großer Klasse.
Um Rache und den Opfer-/Täter-Twist geht es ebenfalls in Celia Fremlins „Spiel mit dem Feuer“. Ein Mann, der seine Frau betrügt, betrügt die Frau, mit der er seine Frau betrügt. Die rächt sich. Und zieht den Kürzeren… Doch, ganz nett. Aber auch hier kommt der Umschwung mit Voransage, also nicht wirklich überraschend. Ganz anders bei Agatha Christies „Villa Nachtigall“. Die Klassikerin des Genres straft hier unsere Anfangsbehauptung, Kurzkrimis seien keine kurzen Krimis, scheinbar Lügen, denn der Text kommt wie ein Vollroman im Zeitraffer daher – und tatsächlich hat die Christie solche dickleibigen Krimis AUCH geschrieben, mit der Grundkonstellation: Naive Frau heiratet Schönling, der aber ein Heiratsschwindler ist und seine Angetraute jetzt aus dem Weg räumen möchte. Im Kurzkrimi jedoch geschieht der Fall aus dem Glück ins Desaster auf wenigen Seiten – und wird dadurch nur noch dramatischer. Am Ende bedient sich auch die Christie des Opfer-Täter-Umkehrschemas.
Dass zeitraffende Geschichten aber nicht automatisch funktionieren, erleben wir bei Margaret Millars „Das Ehepaar von nebenan“. Auch hier zunächst das Idyll, das empfindlich gestört wird und sich auf die Katastrophe zubewegt. Nur: Es geschieht so, wie es jeder erwartet und selbst das nicht ohne Clou inszenierte Ende vermag kaum zu überraschen. Was daran liegen mag, dass der Protagonist, ein pensionierter Kriminalbeamter, zu allwissend daherkommt.
Völlig anders geht P.D. James in ihrer Geschichte „Das Mädchen, das Friedhöfe liebte“ vor. Ein junges Mädchen, elternlos, mit einer etwas morbiden Vorliebe für Friedhöfe, kein Verbrechen weit und breit, nur im Hinterkopf des Lesers mag sich ein Verdacht rühren. James erzählt das Weitere sehr ruhig – und während sie so erzählt, wird das Entsetzliche immer greifbarer. Man könnte die Geschichte mit einem Topf Wasser vergleichen, der auf einen Ofen gestellt wird und sich allmählich erhitzt – um am Ende überzulaufen.
Zwischenfazit: Die Dramaturgie des Kurzkrimis unterscheidet sich von der des Romankrimis vor allem durch die präzise gesetzte Pointe. Zwar sind die Mittel ähnliche, müssen aber, um zu funktionieren, prägnanter sein. Was aber nicht mechanisch funktioniert; ausschlaggebend ist auch hier der Faktor X, die persönliche Meisterschaft der Autorin, des Autors. In den beiden gelungensten Exempeln (Aiken, James) der bisher betrachteten Geschichten wären etwa die exzellenten dramaturgischen Kniffe wirkungslos, würde nicht ein besonderer Erzählduktus dafür sorgen, dass solche inhaltlichen Qualitäten erst durch formale funktionieren können.
Nun, das ist keine Überraschung. Eine solche erwartet uns möglicherweise bei den drei noch verbleibenden Geschichten des Diogenes-Bändchens. Dort nämlich lernen wir den Kurzkrimi als durchaus „genresprengend“ kennen und wollen uns fragen, inwieweit sich diese Form als Experimentierfeld eignet. Alles weitere dazu im zweiten Teil.
Ladies of Crime.
Diogenes 2009. 326 Seiten. 9,90 €
(ausgewählt von Daniel Kampa)
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