Ein neuer Fall für Garry Dishers wackeren Inspector Hal Challis, in dem dieser aber überraschenderweise nur an einem Nebenschauplatz ermittelt. Wer so mit seinem vertrauten Protagonisten umgeht, muss schon sehr von einer Story überzeugt sein. Disher war es – zu recht.
Auf der kleinen Halbinsel in der Nähe von Melbourne darf sich Ellen Destry stellvertretend für Challis mit den kleineren und größeren Verbrechen herumschlagen. Challis nämlich weilt mehrere hundert Meilen entfernt in seinem Geburtsort, einem Wüstenkaff, wo sein Vater im Sterben liegt. Dass er dort nebenbei das geheimnisvolle Verschwinden seines Schwagers untersucht, versteht sich. Aus der Haupthandlung ist der Inspector zwar draußen, untätig bleibt er jedoch nicht.
Ellen und ihre Leute werden mit einem schrecklichen Verbrechen konfrontiert. Ein kleines Mädchen verschwindet auf dem Weg von der Schule, man munkelt von einem Pädophilenring. Durch glücklichen Zufall findet man das Mädchen zwar lebend wieder, doch schwer an Leib und Seele verletzt. Die Wellen schlagen hoch, eine kollektive Panik droht auszubrechen. Doch bald führt eine Spur zu den Tätern, allein: Man kann sie nicht überführen.
Dishers Buch heißt nicht ohne Grund „Beweiskette“, denn genau die kriegen die Ermittler einfach nicht zusammen. Es gibt eine Panne im Labor (diesmal ist nicht das Wattestäbchen schuld), Zeugen wirken unglaubwürdig und, am schlimmsten, die Hintermänner könnten sich in den Reihen der Polizei selbst verstecken. Eine gefährliche Situation für Ellen, die Sache spitzt sich zu.
Disher wäre nicht Disher, nutzte er diese Story nicht, ein weiteres trübes Bild von der australischen Gesellschaft zu zeichnen. Die Ermittlungen konzentrieren sich diesmal auf einen „sozialen Brennpunkt“. Familien vegetieren dahin, einige Jugendliche geraten außer Rand und Band, andere werden mit erschreckender Zwangsläufigkeit Opfer. Am Ende hilft keine Beweiskette, keine rechtsstaatliche Instanz. Gewalt regiert und „löst“ den Fall rabiat auf ihre Weise.
Das alles ist wieder einmal sehr dicht erzählt, wirkt zu keinem Zeitpunkt aufgesetzt, auch das furiose und handlungsreiche Ende entwickelt sich zwangsläufig. Vor allem aber ist „Beweiskette“ ein Buch über die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern. Hier verbinden sich auch Haupt- und Nebenstrang der Erzählung. Die Bandbreite der Möglichkeiten ist dabei beeindruckend, sie reicht von den normalen Irritation bis zur Katastrophe, von den eher in Sentimentalität aufgelösten psychischen Nachwirkungen eines problematischen Verhältnisses bis zu den offenen und tödlichen Wunden einer Beziehung, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist.
Disher zeigt uns das sehr eindringlich, aber nicht aufdringlich. Ganz im Rahmen dessen, was wir als „spannende Kriminalliteratur“ schätzen, sich aber nicht auf seinen Unterhaltungswert reduzieren lässt. So vergnügungssüchtig kann keiner sein, dass ihm die vielen kleinen und großen Dramen hinter dem kurzweiligen Zeitvertreib entgehen könnten.
Garry Disher: Beweiskette
(Chain of Evidence, 2007. Deutsch von Peter Torberg).
Unionsverlag 2009. 439 Seiten. 22,90 €