Zu „historischen Kriminalromanen“ habe ich ein eher gespanntes Verhältnis. Was einem da an „akribisch recherchiertem und atmosphärisch dichtem Zeitbild“ gepinselt wird, entkommt selten den Biederkeiten kriminalliterarischen Mittelmaßes und scheitert in den meisten Fällen an der Tatsache, dass sich bestimmte Dinge eben nicht so einfach recherchieren lassen. Die Denkweise der Menschen zum Beispiel.
Wer einen Krimi aus dem 19. Jahrhundert schreibt, sollte mindestens 100 Originalkrimis aus dem 19. Jahrhundert studiert haben (also nicht einfach nur gelesen). Profunde Kenntnisse der Epoche (politisch, gesellschaftlich, sozial, literarisch etc.) wären auch hilfreich. Am hilfreichsten jedoch: ein eigenes Konzept, das auch andere Elemente berücksichtigt. Bezüge zur Jetztzeit, das Alte als Vehikel des Aktuellen, ein originelles Konzept… apropos: Dagmar Scharsichs „Der grüne Chinese“ ist genau wegen dieses originellen Konzepts eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen von der Regel. Das liest man gerne, das ist überlegt gemacht, da macht man es sich gemütlich – aber nicht zu gemütlich.
Bezeichnenderweise beginnt „Der grüne Chinese“ nicht in der eigentlichen Aktzeit – 1909 -, sondern in der Gegenwart. Die junge Berliner Antiquarin Marie Baer, die mit ihrem klapprigen, aber noch ganz fidelen Großvater in einer Wohngemeinschaft lebt, stößt auf alte Krimigroschenhefte einer gewissen Wanda von Brannburg. Auf der Suche nach mehr von dem guten und gesuchten Stoff lernt sie die 93jährige, etwas verschrobene Rose von Reventlow kennen. Die hat tatsächlich noch eine ganze Kiste alter Brannburg-Krimis – und gehörig Ärger mit Immobilienhaien. Dass letzteres bereits zur Geschichte der Hefte gehört, wissen zu diesem Zeitpunkt weder Heldin noch Leser.
Spannender als die Hefte ist jedoch das Papier, in das sie eingewickelt sind. Offensichtlich ein Tagebuch der Autorin – oder doch nur ein weiterer, nicht veröffentlichter Roman? Nun, wir werden sehen. Jedenfalls beginnen Marie, ihr Großvater sowie ein hilfreicher junger Mann sofort gebannt mit der Lektüre der Aufzeichnungen.
Bis sie das tun, braucht es beinahe 100 Seiten, auf denen wir Marie und ihre Liebesnöte kennenlernen. „Der grüne Chinese“ ist ein erzählerisch opulenter Text, was man ihm, wäre man böswillig, durchaus als unökonomisch ankreiden könnte. Dass man es nicht tut, hat einen einfachen Grund: Der Text liest sich prima, hat durchaus Anklänge an Heftromanartiges, setzt die aber immer geschickt und ironisch ein.
Die Aufzeichnungen der jungen Wanda von Branndenburg, die da so begierig gelesen werden, entführen uns in die Zeit um 1909, das Kaiserreich in seinen letzten Zügen also. Wanda, ein behütetes Mädchen aus gutem Landbesitzerhause, gerät unvermittelt in mysteriöse Abenteuer. Zunächst findet sie einen toten Engländer auf den Branndenburgischen Besitzungen. Dann verschwinden Lieblingsonkel- und tante unter seltsamen Umständen. Schließlich gerät Wanda – an ihrer Seite der treue Chauffeur Justus, der natürlich schnell mehr wird als nur treu und Chauffeur – in den Mittelpunkt arger Verbrechen. Morde geschehen, Anschläge werden verübt. Sind hier skrupellose Immobilienspekulanten am Werk? Scheint so; denn seit der Reichsgründung 1871 boomt das Immobilienwesen, vor allem im schnell wachsenden Berlin und seinen vorgelagerten ländlichen Gebieten. Doch allmählich wird eine andere Spur immer konkreter. Sie führt ins Hochpolitische, hat etwas mit Zeppelinen zu tun und den Kriegsvorbereitungen, die 1909 schon nicht mehr zu übersehen sind.
Das klingt wie ein Doppelroman, ein erzählerischer Kniff also. Das Schöne bei Scharsich ist nun die Konsequenz, mit der beide Geschichten verzahnt sind. Bis zum Schluss bleibt ungeklärt, ob wir es bei Wandas Bericht um einen Roman oder ein wirkliches Tagebuch zu tun haben, Wanda von Brannburg identisch ist mit Wanda von Branndenburg. Aufgeklärt wird einiges, aber eben nicht alles. Es bleibt auf eine angenehme Art fragmentarisch, das in den Kopf der geneigten Leserschaft gepflanzte Fragezeichen wird selbst wieder zu einer möglichen Geschichte. Aber ganz so harmlos ist die eben nicht. In Wandas Erzählungen klingen die Rolle der Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Immobilienspekulation, das fröhliche Kriegstreiben an und werden teilweise zu Beginn des 21. Jahrhunderts apart gespiegelt. So etwas nennt man intelligente Unterhaltung, ein rares Gut, fast 500 Seiten davon liefert Dagmar Scharsich frei Haus, für lumpige12,90. Darauf einen grünen Chinesen!
Dagmar Scharsich: Der grüne Chinese.
Argument / Ariadne Krimi 2008. 475 Seiten. 12,90 €