Einer der kleinsten gemeinsamen Nenner in der Kriminalliteratur ist die Notwendigkeit von Opfern und Tätern. Wer das eine ist und wer das andere, vor allem jedoch, dass kein Zweifel daran besteht, wem welche Rolle zufällt. Nun ist dies in Kriminalromanen kein großes Problem, denn meistens gibt es jemanden, der die Kugel abschießt und jemanden, den sie tödlich trifft. Mag sein, dass wir gelegentlich Mitgefühl mit dem Täter empfinden, seine Täterschaft darauf zurückführen, selbst einmal Opfer gewesen zu sein. Dennoch läuft alles darauf hinaus, am Ende beide Seiten akkurat getrennt und benannt zu haben.
Wie die Kriminalliteratur braucht auch jede Gesellschaft Opfer und Täter, um funktionieren zu können. Und ebenfalls wie die Kriminalliteratur legt sie größten Wert auf die Endgültigkeit ihrer Definition. So wie es Sache des Autors ist, die Rollen zu verteilen, ist es Sache einer Gesellschaft, die Plausibilität ihrer Opfer-Täter-Bestimmung logisch und möglichst unangreifbar herzuleiten. Das gelingt in der Kriminalliteratur wie im wirklichen Leben nicht immer.
Einer der Kriminalromane, in dem dieses klare Opfer-Täter-Prinzip mit einem Frage- und keineswegs einem Ausrufezeichen versehen wurde, ist „Und die Großen läßt man laufen“ von Sjöwall / Wahlöö. Ein Mann erschießt einen anderen, ein Großindustrieller wird von einem kleinen Angestellten ermordet, dessen Existenz durch die skrupellose Profitgier des späteren Opfers zerstört worden war. Wir erkennen sofort, dass hier zwei Opfer-Täter-Definitionen in Konkurrenz zueinander stehen, die rechtliche und die ideologische. Der Leser befindet sich im Zwiespalt. So wenig er die Tötung eines Menschen gutheissen kann, so sehr sagt ihm doch sein Empfinden, hier sei einer nur deshalb zum Täter geworden, weil man ihn zuvor zum Opfer werden ließ. Wir sind am Ende so ratlos wie die ermittelnden Beamten, die ihre Pflicht tun, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl.
Natürlich passte dieses Konstrukt sowohl in die Zeit der Romanentstehung als auch das generelle Konzept der sich zum Sozialismus bekennenden Autoren. Dennoch bildet es etwas Alltägliches, uns stets Gegenwärtiges ab, jenen toten Winkel zwischen Recht und Gerechtigkeit nämlich. Ob nun wegen einiger Maultaschen jemand sein Arbeitsplatz verliert oder über die Frage diskutiert wird, ob der Staat aus dubioser Quelle eine CD mit den Daten von Steuersündern erwerben darf: stets wird die Opfer-Täter-Definition der Paragraphen zu unserem „Rechtsempfinden“ in Opposition stehen.
Eine weitere Variante dieses Vorhandenseins zweier Definitionen von Opfern und Tätern findet man z.B. in Kriminalromanen jüngeren Datums, in Gerard Donovans „Winter in Maine“ und Roberto Alajmos „Mammaherz“. Der Protogonist bei Donovan begeht eine Reihe von Morden, bei denen aus einem zwar nachvollziehbaren, nichts desto weniger unzureichenden Grund blutige Rache geübt wird und zwar, selbst für den Täter offensichtlich, auch an Menschen, die keine Schuld am Inititalereignis (der Hund des Täters wurde erschossen) tragen. Bei Alajmo begegnen wir dem skurrilen Besitzer einer unrentablen Fahrradreperaturwerkstatt, der – wohl für die Mafia – einen entführten Jungen gefangen hält. Aus Angst gewiss, aber auch in der Hoffnung auf Bezahlung.
Warum wir zögern, hier die Täter als solche unzweifelhaft dingfest zu machen, hat wiederum mit unserem Empfinden zu tun, das diesmal jedoch nicht ideologisch geprägt wird, sondern durch die Sympathie mit den Protagonisten. Indem wir die Biografien der Protagonisten kennenlernen, können wir ihre Taten unter psychologischen Aspekten verstehen. Sie sind Teil eines Defekts gewissermaßen, für den die Täter nicht oder nur teilweise verantwortlich gemacht werden können. Die Täter sind Täter, weil sie Opfer anderer geworden sind, die eigentlichen Opfer zahlen eine fremde Zeche.
Aber es ist so eine Sache mit dem Empfinden. Es ist, nicht nur in Romanen, manipulierbar, ja, eine Gesellschaft lebt genau davon, dass ein Konsens über Opfer und Täter hergestellt werden muss und so etwas wie ein „Volksempfinden“ entsteht, dem häufig ein „gesund“ vorgestellt wird, um sein Kranksein zu verbergen. Der uns interessierende Aspekt ist nun der, wie möglicherweise auch die Kriminalliteratur zum Teil dieser manipulativen Prozesse werden kann. Dazu mehr im zweiten Teil.
Hinter der Sympathie mit den Protagonisten steht doch auch eine Ideologie.
Ich kann einen KZ-Arzt in seiner Disposition verstehen, aber ich werde nie Symphatie empfinden.
Ich denke, liebe Henny, das tut etwa bei Donovan auch niemand. Bei S/W braucht man sicher eine ideologische Disposition, um das Verhalten des Täters zu rechtfertigen. Herr Westerwelle dürfte ihn nicht als Opfer sehen. Bei Donovan ist dieses Empfinden weitaus diffuser, was sich ja auch in den Rezensionen gezeigt hat. Auf den Helden als Opfer wurde sehr selten hingewiesen, obwohl es meines Erachtens sehr deutlich wird, wie hier ein Mensch in eine emotionale Sackgasse hinein erzogen wurde.
bye
dpr
Dann hast du aber nur noch Opfer. Das greift zu kurz.
Ich denke, man wird an jede Bewertung eines Täters mit einer Ideologie herangehen, u.a. moralische Werturteile, die in ein System passen. Eigentlich will ich auch keine Sympathie mit dem Täter entwickeln, ich will sein Verhalten verstehen. Nun hat es Donovan aber geschafft, uns einen Mörder zu präsentieren, der uns sympathisch ist. Auch weil er uns die prägende Kindheit gezeigt hat, und es ist so, dass die meisten Serienmörder in den Krimis als Opfer, ob gesellschaftlich oder familiär, präsentiert werden, aber ich denke, Donovan hat mehr getan, er hat unsere Werturteile durch eine komplexe und widersprüchliche Darstellung der Figur (wohin wir auch den Schwerpunkt aus emotionalen und rationalen Komponenten verschieben wollen) ins Wanken gebracht.
Befindet sich nicht jeder von uns in einer „emotionalen Sackgasse“? Selbst die, die von sich glauben, gesellschaftlich „austariert“ zu sein, funktionieren wohl in der einen Richtung, in der anderen nicht. Weil wir eine widersprüchliche Welt haben. Außerdem werden wir ja ständig manipuliert!
Mir war er nicht sympathisch. Allein schon die Idee, Leute umzubringen, weil irgendjemand seinen Hund erschossen hat. Nee. Mir viel zu neurotisch, wenn nicht gar mehr. Komplexe Darstellung, meinswegen.
Andererseits ist Richard Starks Parker für viele Leser ein Sympathieträger, und von seiner Kindheit, von seinen Gefühlen wissen wir rein gar nichts. Das ist dann wieder eine ganz andere literarische Strategie.
dpr, analysier mal. Ich kann grad nicht, stecke tief im Zen-Buddhismus.